Hat Erich Mielke jemals gelebt?

Er war der Mann, der die Stasi war – und der durch die vielen Klischees zum pathologischen Fall wurde

BERLIN taz ■ Erich Mielke ist tot. So viel steht fest. Aber hat er jemals gelebt?

Für die Bild-Zeitung ist der Fall klar: Mielke war Chef der Stasi, also lebte er, und vor ein paar Tagen hat „sein böses Herz“ aufgehört zu schlagen. Was aber, wenn Mielke mehr war als nur Chef der Stasi und gar kein böses Herz hatte?

Der Mielke, den Bild meint und der in den Köpfen der meisten Deutschen existiert, hat wahrscheinlich nie gelebt. Da ist Erich Mielke der Mann, der die Stasi war. Ein Kommunist. Ein Biedermann. Ein Menschenschinder. Ein Mörder. Ein Irrer. Ein pathologischer Fall. Er scheint uns unheimlich, aber doch vertraut, obwohl wir uns für sein Leben nie wirklich interessiert haben.

Natürlich war Mielke der Mann, der die Stasi war, ein Kommunist, ein Menschenschinder. Aber es steht zu vermuten, dass er nicht gleich als General der Staatssicherheit geboren wurde. Wer war Mielke genau? Wie wurde er zu einem der mächtigsten Männer der DDR? Anders gefragt: Welcher Erich Mielke hat eigentlich gelebt?

Es gibt zwei sehr lesenswerte Biografien über den Mann (die eine von Heribert Schwan, die andere von Wilfriede Otto), die diese Frage beantworten. Sie zeigen, dass weder Mielkes Weg hin zum autoritären Stasi-Chef noch der menschenverachtende Irrsinn in der DDR zwangsläufig waren. Es gibt ein Foto des jungen Erich Mielke, das ihn mit der Handballgruppe des Berliner Arbeitersportvereins „Fichte 9a“ im Jahre 1929 zeigt. Es entstand auf einer „Männerfahrt“ in Bernau. Dieses Bild ist von einer Entspanntheit, die mit der Engstirnigkeit und Brutalität des späteren Staatssicherheitsministers nicht unbedingt in Einklang zu bringen ist. Aus diesem Bild könnte man, im Wissen um Mielkes späteres Leben, eine pseudomilitärische Aktion junger Kommunisten machen. Tatsächlich zeigt der Ausflug der Handballgruppe eine fast jugendliche Idylle, die ahnen lässt, dass Ende der 20er-Jahre auch für Mielke vielleicht noch mehr möglich gewesen wäre, als drei Jahre später durch den totalitär geführten kommunistischen Apparat zum Mörder zu werden.

Die Arbeitersohn Erich Mielke wuchs unter ärmlichen Verhältnissen im berühmten „Roten Wedding“ in Berlin auf. Beeinflusst von der politischen Einstellung seiner Eltern und vieler seiner Freunde, trat Mielke bereits 1921 in den Kommunistischen Jugendverband ein, ein paar Jahre später in die KPD. Der Eintritt in die Partei war bei Mielke keine persönlich begründete oder politisch durchdachte Entscheidung. Er war eher der kollektiven Atmosphäre im proletarischen Milieu geschuldet. Das Kollektiv bedeutete Schutz, Solidarität, Selbstbewusstsein, und es war die kleinste Zelle des politischen Kampfes. Dazu kam ein spielerisches Moment bei der Auseinandersetzung mit der Polizei, mit dem Klassengegner. Der Historiker Götz Aly nennt das die „Fun-Welt des jungen Mielke, halb weltverbesserisch, halb jugendlich-abenteuerlustig“.

Die Weichen in Mielkes Leben wurden 1931 gestellt. Er war erst 23 Jahre alt, als er– aufgehetzt und instrumentalisiert durch hohe KPD-Funktionäre – am Berliner Bülowplatz zwei Polizisten ermordete. Mielke musste, obwohl er dagegen war, auf Druck der Parteiführung in Moskau untertauchen. Dort wurde er an der Leninschule zum Berufsrevolutionär ausgebildet. Durch diese Wendung in seinem Leben, die Mielke sich nicht ausgesucht hatte, wurde er zu dem, der er später war. JENS KÖNIG