Der Tod des liebenden Jägers

Erich Mielke war von Gewaltfantasien und konspirativem Wahn geprägt, die auf dem Boden der Weimarer Republik gediehen waren

von CHRISTIAN SEMLER

Die emsigen Mitarbeiter der Abteilung 11/Hauptabteilung IX des Ministeriums für Staatssicherheit, allesamt Spezialisten zur Geschichte Nazideutschlands, hatten sich umsonst ins Zeug gelegt. Der Bildprachtband anlässlich Erich Mielkes 80. Geburtstag, der der Arbeit des Gewaltigen bis 1945 gewidmet werden sollte, ist nie erschienen. Zu viele biografische Widersprüche, zu viele weiße Flecke. Eigentlich schade. Der Prachtband hätte ein Dokument der Selbstdarstellung werden können, damit aber auch eine Geschichte der Obsessionen, denen die alten KPD-Funktionäre verfallen waren.

Denn Erich Mielke hat ebenso wenig wie Erich Honecker je den Bannkreis der Erfahrungen überschritten, die die jungen Kommunisten vor 1933 und danach – in Emigration und Gefängnis – prägten: Du musst dich entscheiden! Entweder die Sache des Proletariats mit dem Vaterland aller Werktätigen als Führer oder die niedergehende Sache des Imperialismus. Dazwischen gibt es nichts. Das Proletariat ist gut und gesund, aber verführbar. Das Schlechte kommt von außen. Es wühlt umso heftiger, je klarer sich seine Niederlage abzeichnet. Deshalb darf die Aufmerksamkeit gegenüber Wühlern und Diversanten nie nachlassen.

Gewaltfantasien, konspirativer Wahn und Verschwörungstheorien gediehen in der späten Weimarer Zeit auf gut gedüngtem Boden. Seit dem Blutmai 1929, als kommunistische Demonstranten auf Befehl eines sozialdemokratischen Polizeipräsidenten niedergemacht worden waren, galten den kommunistischen Aktivisten in Berlin die Sozis als Sozialfaschisten, eigentlich als noch gefährlicher als die Nazis. Gut. Der Genosse Heinz Neumann, der die Parole „Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft“ ausgegeben hatte, wurde als Ultralinker entmachtet. Aber hatte Neumann nur einen sektiererischen Slogan fabriziert? Als unter Mielkes Mitwirkung zwei besonders verhasste SPD-Polizeioffiziere im August 1931 am Bülowplatz ermordet wurden, entspach diese Mordtat dem Lebensgefühl und der Überzeugung vieler junger Kommunisten.

Die „Bülowplatz-Aktion“, wie sie von Mielke in seinem sowjetischen Fluchtort genannt wurde, erwies sich für den jungen Kader als lebensbedrohlich. Sie konnte in der Zeit der Massenverfolgungen auch deutscher Kommunisten in der Sowjetunion leicht als faschistische Provokation umgedeutet werden. Für Mielke wurde die Unterordnung unter den sowjetischen Geheimdienst zu einer Haltung, die ihm die Sorge ums eigene Überleben ebenso nahe legte wie seine Überzeugungen und Leidenschaften. Leidenschaften? Der eisige Bürokrat und Organisationsperfektionist liebte Waffen auf fetischistische Weise. An der Macht wurde die Jagd zu seiner Passion, seine Jagdwaffensammlung setzte noch nach seiner Entmachtung die Ermittler der DDR-Militärstaatsanwaltschaft in Erstaunen.

In der Kommunistischen Internationale war „individueller Terror“ stets als kleinbürgerlich-anarchistisch verurteilt worden. Das gleiche offizielle Verdikt seitens der SED traf auch die RAF und die „Bewegung 2. Juni“ in den 70er-Jahren. Aber war es wirklich nur Neutralisierungstaktik, die Mielke dazu bewog, den RAF-Leuten in der DDR Asyl zu gewähren? Warum dann die Schießübungen, die Unterweisung im Gebrauch von Sprengstoff, die logistischen Hilfestellungen bei Attentaten? Vom süßen Geschmack des Terrors wollte auch der „Marxist-Leninist“ nicht lassen.

Mielkes Lebensziel war es, das MfS so auszubauen, dass es wie die Strahlen des „Sonnenstaates“ alle Winkel des gesellschaftlichen Treibens in der DDR ausleuchtete. Aber indem Mielke immer mehr Ressourcen auf die Spionage nach innen konzentrierte, geriet seine Firma in ein Dilemma. Er wusste mehr als alle anderen (außer vielleicht dem Planungschef Schürer) über den Niedergang der DDR-Wirtschaft, über das Ansteigen der Fluchtwelle, über die Misere des DDR-Alltags. Die Summe dieser Kenntnisse hätte ihn dazu bringen müssen, in den 80er-Jahren einen vollständigen Kurswechsel der DDR Richtung Bundesrepublik ins Auge zu fassen, so wie ihn Gerhard Schürer tatsächlich unternahm. Aber seine lebenslange Prägung ließ es nur zu, überall die „politisch-ideologische Diversion“ (PID) und die „politische Untergrundtätigkeit“ (PUT) am Werk zu sehen. Die potenzielle „Macht der Machtlosen“, also die Arbeit der rund 800 demokratischen Oppositionellen, hat er erkannt. Aber er dachte, auf der Gegenseite wären Leute am Werk, die aus demselben Material gebacken waren wie er selbst.

Was mögen sich die schon auf Gorbatschow-Kurs eingeschwenkten KGB-Leute gedacht haben, als sie den alten Kollegen kurz vor der demokratischen Revolution besuchten? Noch einmal warnt er vor der Konterrevolution auf Filzlatschen, noch einmal beschwört er die Wachsamkeit der Tschekisten. Die sowjetischen Genossen, auf die er zeitlebens fixiert war, sie lassen ihn fallen.

Im letzten Lebensjahrzehnt, angesichts einer Vielzahl von Anklagen, von Haft und schließlicher Haftunfähigkeit, steht Schweigen. Keine „Fehlerdiskussion“, kein „Trotz alledem“. Angeblich soll er einen Platz erhalten auf dem Friedhof der Sozialisten. Was soll’s? Wer liegt nicht schon alles auf diesem Gedenkstätte genannten Irrgarten?