Starkes Buhgewitter im kräftigen Bravohoch

 ■ Christoph Loys erregende Inszenierung der Berlioz-Oper „Fausts Verdammnis“ spaltete das Publikum im Bremer Theater

Die Möglichkeiten zur Publikumsbeschimpfung, die Christoph Loy aus Hector Berlioz‘ „Fausts Verdammnis“ für seine szenische Realisierung zog, kamen an: gegen das Buhgewitter am Ende formierte sich deutlich die Bravo-Fraktion. Einen besseren Beweis für einen erregenden Theaterabend kann es kaum geben. Für die letzte Premiere dieser Spielzeit, ging eines der seltsamsten Werke des Musiktheaters über die Bühne, eines, das eigentlich gar nicht für eine szenische Umsetzung gedacht war. Zunächst „Oper für den Konzertsaal“, dann „Dramatische Legende“ nennt der Komponist 1845 seine Faustvertonung. Aus der surrealen Unwirklichkeit der szenischen Anweisungen und der Nichtrealisierbarkeit bestimmter Szenen zieht Christoph Loy reichlich Kapital.

Berlioz‘ Faust ist kein erkenntnishungriger Intellektueller, sondern ein verzweifelter Künstler, der am Ekel vor den Menschen und sich selbst von Anfang an verrückt ist. Dass hier nicht nur Faust, sondern auch der Komponist selbst thematisiert wird, arbeitet Loy extrem aus, begründet das n zu Recht im Außenseiterum Berlioz‘ selbst, der sich ja häufig in seinem Werk zum Thema macht. Loy hat in dem Sänger Jean-Francis Monvoisin als Faust einen exzellenten Schauspieler. Marguerite (Fredrika Brillembourg) ist keine wirkliche Gegenspielerin, sondern eine Projektion auf dem Hintergrund einer Gesellschaft, deren Auffassung von Sexualität vollends abgerutscht ist in den Gebrauch von aufblasbaren Liebespuppen.

Schon in der Partitur weiß man kaum, was Traum ist und was Wirklichkeit, was Loy für das Publikum zu noch mehr Verwirrung und Orientierungslosigkeit nutzt: Wenn Faust Gretchen als Vision sieht, lässt Loy vor dem grölenden Auerbachs Keller-Publikum eine Liebespantomime spielen, die sehr viel echter wirkt als die spätere wirkliche Begegnung. Bevor die wiederum passiert, turnt Faust, als er sich in ihre popelige fünziger Jahre Absteige eingeschlichen hat, in Gretchens Bett einen regelrechten Akt ohne sie. Und als dann Gretchen wirklich da ist, wird die Begegnung eher zum gegenseitigen körperlichen Missbrauch. Es gibt nur eine wirkliche Szene, deren Realismus betroffen macht: Gretchens einsamer Monolog nach der Begegnung mit Faust.

Die Irrlichter, die Gretchen betören sollen, sind Teletubbies, die dem unbeholfenen Mädchen einen ebenso fürchterlichen Alptraum verschaffen wie die Invasion des männlichen Chors, der an ihm rumgrabscht, und die spätere Invasion der spottenden Nachbarn. Das sind wenige Beispiele für die Traumbilder von unglaublicher Intensität und großer Genauigkeit in den Inhalten. Loy nutzt dazu noch andere, höchst wirksame Mittel: die überraschenden Wechsel ins Zeitlupentempo oder auch die Verdoppelung der Bewegungstempi, brillante Lichteffekte, ebenso wie exakt eingesetzte Choreographien.

Auch das Bühnenbild von Dirk Becker und die Kostüme von Herbert Murauer und Michaela Barth erfüllen diese „psychoanalytischen“ Wirkungen. Wissen schon die Protagonisten niemals, wo sie eigentlich sind, so weiß es das Publikum allmählich auch nicht mehr. Allerdings sind wir gemeint, wenn Fausts Zerstörtheit begründet wird: Nicht nur, dass er am Anfang auf uns mit Fingern zeigt: Zwischen der Hölle, in die er verschwindet und dem Himmel, in den Margarete geht, wendet sich eine riesige Lichttafel an das Publikum.

Ein besonderes Meritum dieser Inszenierung gebührt der Vielseitigkeit des Chores mit seinen präzisen Charakterisierungen: Loy zeigt das ungarische Heer als unformierte Gesellschaft, deren Miglieder andere drillen. Auerbachs Keller: eine graue und eklige Saufgesellschaft, und am Ende als Bewohner der Hölle die konsumsüchtigen „Ballermänner“. Im Einkaufswagen mit Schnuller sitzt der vollends regredierte Faust. Die Choreographien von Jacqueline Davenport lassen an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig.

Fredrika Brillembourg als Marguerite ließ erstaunen: Ihr wunderbarer Mezzo wird in diesem Stück in eine unerwartete Höhe geführt, die sie meisterhaft beherrscht. Dazu hat ihr Spiel eine atemberaubende Intensität und nichts weniger als erschütternde Größe. Diese Leichtigkeit der Stütze und der Atemführung war Monvoisin leider nicht gegeben, der viel forcieren musste, und je mehr er das tat, umso mehr vom charakteristischen Timbre seiner Stimme verlor. Trotzdem: Auch er bot eine sich steigernde Riesenleistung in einer exorbitant schweren Partie. George Stevens als Mephisto läuft als Penner mit Aldi-, Penny- und Dodenhoftüten herum, überzeugend seine koboldhafte Wendigkeit. Auch er ein Außenseiter, nur ganz anders.

Musikalisch ist diese „Opium-Musik“ bei Günter Neuhold mit dem Philharmonischen Staatsorchester in besten Händen. Das Gewicht der ebenso deutlich wie farbig musizierten Partitur mit noch heute erstaunlichen Wirkungen half wunderbar zur Unterstützung der Szene: ein äußerst gelungener, vielschichtig anregender Versuch, Berlioz‘ Drama dem Musiktheater zu erschließen. Die überragende Chorleistung (Theo Wiedebusch) verdient es, extra genannt zu werden.

Ute Schalz-Laurenze

Die nächsten Aufführungen: 3., 6., 10., 23. und 30. Juni, jeweils um 19.30 Uhr. Karten: % 365 33 33