Alte Pracht ins Potemkinsche Dorf

Die Jüdische Gemeinde erwirbt rund um die Synagoge an der Oranienburger Straße Gebäude im Wert von 10 Millionen Mark – zu einem symbolischen Preis. Die Gemeinde sieht darin eine Option für die Zukunft. Vorerst will sie die Häuser vermieten

von PHILIPP GESSLER

Fast zehn Jahre Verhandlungen waren nötig, jetzt ist die Sache so gut wie perfekt: Bis zur Sommerpause will die Jüdische Gemeinde einen Kaufvertrag unterschreiben, durch den sie vier Grundstücke in der Nachbarschaft der prächtigen Synagoge in der Oranienburger Straße ersteht. Damit ist der Weg frei, dass das Areal in Mitte, das vor dem Krieg zu den vornehmsten jüdischen Vierteln gehörte, sein altes Gesicht wieder erlangt (s. Kasten) – bisher sprechen viele auf der Suche nach dem jüdischen Charakter des Ortes eher von einem Potemkinschen Dorf.

Die Jüdische Gemeinde wird die Grundstücke in der Auguststraße und der Oranienburger Straße (sowie eines etwas abseits in der Schönhauser Allee) von der „Claims Conference Nachfolgeorganisation“ erwerben. Diese jüdische Institution mit Sitz in Frankfurt/Main fungierte nach dem Krieg als Rechtsnachfolgerin der in der Shoah untergegangenen jüdischen Gemeinden und erhielt im Wesentlichen den jüdischen Besitz, für den keine Eigentümer oder Erben mehr ausfindig gemacht werden konnten. Die Claims Conference überlässt die Grundstücke der Gemeinde zu einem vergleichsweise niedrigen Preis von etwa drei Millionen Mark, obwohl deren Marktwert derzeit auf etwa 10 Millionen geschätzt wird.

Auf diesen symbolischen Preis haben sich beide jüdische Institutionen geeinigt, da zwischen ihnen umstritten ist, wem die Grundstücke gehören: Während die Claims Conference die Gebäude mit einer Nutzfläche von mehreren tausend Quadratmetern auf der Grundlage von Verträgen mit der bundesdeutschen Regierung aus den Fünfzigerjahren für sich beansprucht, sieht die Hauptstadt-Gemeinde sich als Eigentümerin. Sie beruft sich dabei darauf, dass der Ost-Berliner Gemeinde in der Wendezeit die Rechtsnachfolge der Vorkriegsgemeinde attestiert wurde. Durch die Fusion der Gemeinden Ost und West nach der Wiedervereinigung sei diese Rechtsnachfolge auf die Gemeinde der gesamten Stadt übergegangen – und damit auch der jüdische Besitz der Vorkriegszeit.

Mit dem Vertrag will man einen Rechtsstreit vermeiden, der sich nach Einschätzung vieler über Jahre hinziehen könnte. Während dieser Zeit wären nicht nur mit diesen Immobilien keine Mieteinkünfte zu erzielen. Zudem blieben bis zu einem endgültigen Urteil Baumaßnahmen aus, mit denen die teilweise verrotteten Gebäude schon jetzt vor dem endgültigen Verfall gerettet werden müssen. Der Gemeindevorsitzende Andreas Nachama hält vor einer möglichen Vermietung Investitionen von 30 Millionen Mark für realistisch. Interessenten gebe es aber schon.

Trotz der riesigen Investitionssumme ist das Geschäft „sehr vorteilhaft“, wie Nachama bereits vor der Repräsentantenversammlung, dem Gemeindeparlament, sagte. Wenn alle Gebäude saniert seien, so schätzten Repräsentanten, könnten für einen Komplex in der Auguststraße, der teilweise schon jetzt der Gemeinde gehört, Mieteinkünfte von womöglich etwa 240.000 Mark im Monat erzielt werden. Allerdings wolle die Gemeinde nicht mit Immobilien spekulieren: Ihr gehe es nicht um eine Gewinnmaximierung.

Nachama betont, Ziel des Grundstückserwerbs sei vielmehr, der Gemeinde für die Zukunft eine „Option“ zu sichern. Bis in etwa zehn Jahren könnten die neuen Grundstücke von Mietern – etwa jüdisch oder kulturell geprägten Einrichtungen – genutzt werden. Denn vorerst brauche man die Immobilien nicht. Die Mieter sollten jedoch bereit sein, die notwendigen hohen Investitionen zu tragen. Der Investitionsbedarf ist so hoch, dass manche in der Gemeinde befürchten, man könnte sich sonst übernehmen. Später aber, so Nachama, sollte die Gemeinde wieder die Möglichkeit haben, die Gebäude für ihre Zwecke zu nutzen. Ideen kursieren bereits, dass etwa eine mögliche neue jüdische Realschule in der Auguststraße einziehen könnte.

Immer wieder verweisen die Gemeindemitglieder mit Blick auf das Grundstücksgeschäft auf die erstaunliche Entwicklung, die ihre Gemeinschaft in den vergangenen zehn Jahren genommen hat: Die Zahl der Mitglieder verdoppelte sich auf fast 12.000. Auch wenn solche Zuwachsraten nicht mehr zu erwarten sind, ist ein Ende der Blüte jüdischen Lebens in der Hauptstadt noch lange nicht in Sicht. Die Jüdische Gemeinde baut für ihre Zukunft vor.