Aus dem Nest gestoßen

Einer 17-jährigen Berberin – traumatisiertes Opfer zweier Verheiratungen durch den Onkel – droht die Abschiebung nach Marokko und die Ermordung durch die Familie. Gesellschaftliche Ungleichzeitigkeiten: In Marokko soll sie die Familienehre verletzt haben, in Deutschland das Ausländerrecht

von EKKEHART SCHMIDT

Familientreff der Arbeiterwohlfahrt Düsseldorf im Stadtteil Dehrendorf. Die gebürtigeMarokkanerin Luisa Hulich, Leiterin eines Frauen-Integrationskurses, bespricht sich mit der höchstens 17-jährigen Yamna. Sie sitzt da wie ein Vogel, der aus dem Nest gestoßen wurde, ohne schon flügge zu sein. Sie wirkt verschlossen, verschüchtert und kontaktscheu. Auf Fragen reagiert sie erst bei Wiederholung. Lachen fällt ihr schwer. Yamna lebt seit 1997, seit einer durch die Eltern arrangierten Heirat, in Düsseldorf .

Sie ist zum Spielball der Entscheidungen ihres Onkels und des Ausländeramtes geworden. In Deutschland droht ihr die Abschiebung, in der einstigen Heimat der Tod im Namen der „Ehre“. „Wenn du zurückkommst, wirst du dein Leben verlieren“, hat ihr ihre Familie ausrichten lassen. Nach traditionellen Vorstellung hat sie die Familienehre massiv verletzt. Sie hat Schande über die Familie gebracht.

Yamna ist als eins von 13 Geschwistern in einem Berberdorf im kargen östlichen Rifgebirge aufgewachsen. Die Gegend um Ain-Zorah in der Provinz Nador ist ein Niemandsland, die nächsten Städte sind 100 Kilometer entfernt. Die Berber haben in der Isolation des Rifgebirges ihren traditionellen Charakter weitgehend behalten. Das Rifgebirge zählt zu den am stärksten von Auswanderung betroffenen Gebieten Marokkos. Yamna el-Amraoui kommt aus einer Bauernfamilie eines solchen weitgehend unerschlossenen Bergdorfes mit Lehmhäusern – ohne Telefonanschluss, nur für wenige Stunden am Tag mit Strom versorgt. Sie spricht nur Tamazight, eine der vier großen Berbersprachen.

Als älteste Tochter half sie ihrer Mutter, die anderen Kinder aufzuziehen. Im Frühsommer 1997 kam Ahmet Allali, einer ihrer Onkel, in das Dorf. Er, der seit vielen Jahren als Arbeiter in Deutschland lebt, erzählte vom guten Leben dort und hielt für seinen in Deutschland geborenen Sohn Mohammed um ihre Hand an. Den Sohn hatte Yamna noch nie gesehen, er war auch jetzt nicht anwesend. Dennoch wurde die Ehe geschlossen. Eine wahrscheinlich gefälschte Vollmacht des Sohnes hatte der Onkel dabei.

Am 19. Januar 1998 reiste Yamna im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland ein. Nach Einschätzung der Psychologin Barbara Geue entspricht Yamnas heutiges Erscheinungsbild wie auch ihr Verhalten nicht dem einer 20-jährigen wie der Pass vorgibt. Wahrscheinlich liege ihr tatsächliches Alter bei 16 bis 17 Jahren. Offenbar ist sie älter gemacht worden, um sie verheiraten zu können. Dann wäre sie bei ihrer Einreise 13 bis 14 Jahre alt gewesen.

Es war ihre erste Reise und Düsseldorf ihre erste Großstadt. Yamna ist nicht die erste Berberin aus der Provinz Nador, die als Braut an den Rhein kam. Die meisten Berber hier kommen von dort. Auch Luisa Hulich, die sie jetzt betreut. In Düsseldorf gab es für Yamna eine böse Überraschung: Der Sohn war schon mit einer Griechin liiert, wovon der Onkel angeblich nichts wusste. Sehr wahrscheinlich wusste er das doch und ist genau deshalb zur Brautschau nach Marokko gefahren. Er wollte, dass sein Sohn eine traditionell erzogene Muslimin wie Yamna heiratet. Ihr Vater wiederum war froh, seine älteste Tochter in Deutschland „gut“ verheiratet zu haben. Der Sohn fühlte sich offenbar gezwungen, den Vater vor der anwesenden Verwandschaft nicht zu blamieren. Es folgte die traditionelle Hochzeitsnacht. Dennoch: Für den Sohn kam die Ehe nicht wirklich in Frage. So war die Ehegemeinschaft bald beendet. Yamna blieb aber noch einige Monate, wurde als Haushälterin beschäftigt. Die Ehe wurde schließlich geschieden. Ihre bis Oktober 1998 gültige Aufenthaltserlaubnis lief ab. Jemand meldete sie ohne ihr Wissen beim Ausländeramt ab und wenig später in Marokko an – glaubt man den Stempeln in ihrem Pass. Gereist war allerdings nur ihr Pass, falls er nicht hier gefälscht wurde.

Der Onkel zahlte nun seinem 34-jährigen Landsmann Mhamed Bouzaku aus Düsseldorf 3.000 DM dafür, dass er Yamna heiratete. Die zweite Ehe ging Yamna ohne Wissen und gegen den Willen ihrer Eltern nur auf Druck des Onkels ein. „Ohne Schule und Bildung aufgewachsen, konnte sie die Situation überhaupt nicht durchschauen und hatte demzufolge auch keine Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen. Sie wurde, wie aus der Heiratsurkunde zu entnehmen ist, auf Grund einer von ihr gegebenen notariellen Vollmacht durch ihren Onkel in diese Ehe gegeben“, so Barbara Geue. Es ist davon auszugehen, dass auch diese Vollmacht gefälscht wurde. Als Standesamt fungierte das Konsulat. Obwohl Yamna nach wie vor in Düsseldorf war, bekam ihr Pass dann einen Stempel der deutschen Botschaft in Rabat, demzufolge sie am 12. April 1999 einen zweiten Visaantrag für Deutschland gestellt hat, der dann zunächst bis zum 11. Juli 1999 genehmigt und später bis zum 11. April 2000 verlängert wurde.

Der zweite Ehemann hatte bisexuelle Neigungen und offenbar auch Drogenprobleme. An Wochenenden, in denen er Sex mit anderen Männern hatte, war Yamna oft anwesend oder musste sich im Keller aufhalten. Sie wurde mehrfach geschlagen.

Im Juli 1999 wurde sie schwanger. Als ihr Mann davon erfuhr, prügelte er sie mit gezielten Schlägen in den Unterleib und ließ sie alleine. Mehrere Stunden später wurde sie von der Schwägerin per Bus in ein Krankenhaus gefahren. Noch am gleichen Tag meldete ihr Mann sie beim Ausländeramt als vermisst. Als ihr Mann sie zwei Tage später im Krankenhaus besuchte und feststellte, dass es Yamna und dem Ungeborenen wieder gut ging, schlug er sie wieder mehrmals gezielt in den Unterleib, trotz der anwesenden Schwägerin. Yamna schrie um Hilfe, eine herbeieilende Krankenschwester wurde jedoch beruhigt, es sei nichts passiert. Yamna konnte sich nur in Tamazight artikulieren. Sie kam für acht Monate in ein Frauenhaus. Im siebten Monat hatte sie eine Fehlgeburt.

Die Zeit im Frauenhaus hat ihrer stark angeschlagenen Psyche keine Erholung gebracht. Ohne Deutschkenntnisse war keine Kommunikation möglich. Yamna wurde sogar hier zum Opfer – von den anderen Frauen als Putzfrau ausgenutzt. Seit Mitte März lebt sie in einer sozialpädagogisch betreuten Hausgemeinschaft. Sie hat sich gut eingelebt, ihr Lebensunterhalt wird gesichert und ihr wird geholfen, wieder einen Lebensmittelpunkt aufzubauen.

Das Haus verlässt sie gleichwohl nur noch in Begleitung. Nach Einschätzung ihres Rechtsanwaltes Wolfgang Diesing, ist sie „durch die psychische und seelische Grausamkeit psychisch so angeschlagen, fast schon zerstört, dass ihr ein selbständiges Leben derzeit nicht möglich ist“. Hulich schildert, wie sie sich manchmal „zärtlich den Bauch streichelt, weil sie glaubt, noch schwanger zu sein“. Menschliche Begegnungen – wie die Teilnahme am Integrationskurs – fallen ihr sehr schwer und sind immer nur für kurze Zeit möglich. „Sie ist wie ein Kind, spielt verträumt oder schaut regungslos ins Nichts“, erzählt Hulich.

Eine Rückkehr nach Marokko kann sie sich Yamna nicht vorstellen. „Wenn Marokko, dann lieber tot.“ Ihre Eltern – als einzige Bezugspersonen – weigern sich, sie wieder aufzunehmen. Ihr wurde mitgeteilt, dass die Heiratschancen der anderen – allesamt jüngeren – sechs Schwestern und ihres älteren Bruders so gut wie zerstört seien, weil sie als Älteste durch die Scheidung von dem ersten Mann und die zweite Verheiratung gegen den Elternwillen die Ehre der Familie zerstört habe. Nach der tief verwurzelten Sitte der Dorfgesellschaft gibt es nur einen Weg, diese als ungeheuerlich empfundene Schande zu beseitigen und die Familienehre zu „reinigen“: den Tod des Mädchens. So haben die Eltern ihr unter Zeugen angedroht, sie umzubringen, beziehungsweise ihr nahegelegt, dies selbst zu tun. Familienmitglieder – meist der älteste Bruder – fühlen sich verpflichtet zu einer solchen Tat. Und auch die soziale Umgebung würde sie billigen, selbst wenn der Täter ins Gefängnis käme. „Für ihre Menschenwürde und Sicherheit ist es daher absolut notwendig, dass sie für längere Zeit nicht nach Marokko zurückkehren muss“, argumentieren Yamnas Betreuer. Konkret: „Bis sie stabil genug ist, ihr Leben selbständig zu gestalten.“

Die Argumentation führte dazu, dass das Ausländeramt eine Verlängerung der am 11. April ablaufenden Aufenthaltserlaubnis bis zum 28. Mai gestattete, um den Fall zu prüfen. Bei der Anhörung am vergangenen Donnerstag fällte das Ausländeramt zwar keine Entscheidung, Yamna bekam aber in den Pass gestempelt, dass sie jetzt „behördlich erfasst bis zum 28. August 2000“ ist. Falls bis dahin keine Entscheidung für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis fällt, droht die Abschiebung. Ihre einzige Chance ist nun die Anwendung eines Erlasses des Landesinnenministeriums von 1998, demzufolge eine „außergewöhnliche Härte“ im Sinne von §19 des Ausländergesetzes dann vorliegt, „wenn das drohende Schicksal einer Person im Zusammenhang mit der bestehehenden Rückkehrverpflichtung die Versagung der Aufenthaltserlaubnis als nicht vertretbar erscheinen lässt“ – so Rechtsanwalt Diesing. In zwei ähnlich gelagerten Fällen hat Hulich jedoch schon Abschiebungen erlebt.

Zwar hat der Bundesrat am sechsten April die Änderung von §19 des Ausländergesetzes gebilligt, das ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für ausländische Ehegatten nach zwei (bisher vier) Jahren vorsieht. In Fällen der besonderen Härte, etwa aufgrund von Misshandlungen, soll jegliche Wartefrist entfallen. Aber Yamna ist nach den Stempeln in ihrem Pass noch keine elf Monate hier und die Gesetzesänderung ist noch nicht in Kraft. Gemäß dem psychologischen Gutachten von Barbara Geue „leidet Yamna unter einer schweren Depression mit stark autoaggressiven Tendenzen, die sich in Suizidabsichten und Essstörungen manifestieren“. Über den letzten Strohhalm – die Hoffnung auf eine Härtefallausnahme – entscheiden Sachbearbeiter im Ausländeramt. Deren Chef wiederum, Amtsleiter Hofmann, hat sich nun der Sache selbst angenommen und möchte die Abschiebung vermeiden, erzählt Hulich, die sich mit aller Kraft für Yamna einsetzt. Wenn sich da nichts ergibt, bleibt nur die Flucht in den illegalen Aufenthalt. Bei aller Apathie kämpft Yemna um eine Zukunft in Deutschland. Mit einer Veröffentlichung ihrer Geschichte in der taz war sie sofort einverstanden. Am vergangenen Montag hat sie ein einmonatiges Praktikum als Schneiderin begonnen. Die ersten Tage waren ermutigend.

Hinweis:Nach traditionellem Denken brachte sie der Familie Schande