Warten auf die andere Party

Goldene Zeiten für Literatur (V): Experiment, Widerrede und Eigensinn oder warum die deutsche Literaturkritik vielleicht doch noch zu retten ist

■ Abfall für alle? Die neue deutsche Literatur:Schnell geschrieben? Schnell gelesen? Schnell weggeworfen? Eine Artikelreihe über Popliteraten, Jungschriftsteller, Markterfolge und die Folgen

von KOLJA MENSING

Also noch einmal: Die junge deutsche Literatur ist nur ein Hype der Medien, ist Erlebnis statt Bedeutung, die Autoren sind eitel, die Texte banal . . . Hallo? Hört eigentlich noch jemand zu? Das ist so, als ob man auf einer Party herumsteht und darüber redet, dass man die Party blöd findet.

– Lass uns nach Hause gehen, Schatz.

– Harald Schmidt ist eh vorbei.

– Können wir dann vielleicht über was anderes reden?

Herr Politycki, Schriftsteller und 44 Jahre alt, hat eine Idee. Die deutsche Literaturkritik steckt „tief in der Krise“, sagt Herr Politycki, greift nach den Erdnüssen und regt sich auf: über den „Chor der Berufsjugendlichen“ in den Feuilletons, die sich selbst in ihren Polemiken noch gemein machen mit den Popliteraten. (Siehe taz, 25. Mai) Man muss allen, die „älter als dreißig“ sind und unbedingt mitreden wollen, mal kräftig „auf die Finger hauen“, findet Herr Politycki, und er meint: allen, die älter als 44 sind. Den Achtundsechzigern, sozusagen. So viele Achtundsechziger gibt es allerdings in den Kulturredaktionen auch nicht mehr, und was um die 44 Jahre alt ist, ist genauso anstrengend. Aber es soll eigentlich um etwas anderes gehen.

– Kann mal jemand die Musik leiser machen? Entschuldigung, Herr Politycki . . .

– „Woran liegt es aber, dass die Literaturkritik als Ganze so tief in der Krise steckt?“ – (unangenehmes Schweigen)

– „Ist’s vor allem eins – dass die Kriterien nicht mehr passen, nach denen man bis vor kurzem noch Literatur beurteilen konnte?“

Kriterien sind Merkmale, an Hand deren man die Dinge prüft, Entscheidungen fällt und zuletzt – zu Urteilen kommt. Neue Kriterien findet man nur, wenn man die bereits vorhandenen Urteile und getroffenen Entscheidungen einen Augenblick beiseite lässt. Herr Politycki kann das nicht, und das ist das Problem. Ihm gefällt es nicht, dass die „Profi-Leser“ ein Medienphänomen „mit Literatur verwechseln“, und wenn er nach neuen Kriterien ruft, dann nur, um diese Grenze wieder neu zu befestigen. Die Literaturkritik soll ihm erklären, warum die Party, auf der wir herumstehen, so langweilig ist.

– Taxi?

Halt. Es ist gar nicht so langweilig. Es gibt, zumindest in Ansätzen, neue Formen der Literaturkritik, nur wird man sie eben nicht wahrnehmen, wenn man auf der Unterscheidung zwischen „Medienphänomen“ und „Literatur“ (Matthias Politycki, Achtundsiebziger) oder „Erlebnis“ und „Bedeutung“ (Ulrich Greiner, Achtundsechziger) beharrt. Man weiß doch eigentlich schon etwas länger, dass ein Buch mehr ist als der Text, der auf die paar hundert Seiten zwischen zwei Buchdeckel gedruckt wird, und der einen entweder glücklich oder unglücklich macht, interessiert oder nicht interessiert, und an den man höchstens noch einen geisteswissenschaftlichen Diskurs anschließen darf: „Die Grenzen eines Buches sind nie sauber geschnitten.“ (Michel Foucault)

Marketing, zum Beispiel. Man hat sich gerne über die naiven Klappentexte lustig gemacht, die Verlage ihren Büchern mitgegeben haben. Heute allerdings erweitert sich das Werk ganz von selbst auf den Schutzumschlag, und wenn ein Buch über Banalitäten der „Generation Golf“ von Heike Makatsch und Benjamin von Stuckrad-Barre beworben wird, dann kann man das natürlich doof finden, aber man wird nicht darum herumkommen, dieses Urteil sehr genau begründen zu müssen. Das ist dann wohl Literaturkritik. Und es ist keine Literaturkritik, sich mit Herrn Politycki (und Herrn Greiner und all den anderen) darüber zu ärgern, dass „das Außerliterarische zunehmend an Bedeutung gewinnt“ – „gar das Autorenfoto“.

Stimmt ja. Und? Viel lieber als diesen Text hier zu schreiben, hätte ich über dieses schöne Werbefoto von Herrn Politycki geschrieben, dass zur Zeit im Prospekt einer großen Buchhandelskette zu sehen ist, und auf dem er mit einem glücklichen Lächeln eine Plastiktüte mit einem Werbefoto von Alexa Hennig von Lange hochhält: Das Außerliterarische gewinnt zunehmend an Bedeutung, und dass es so außerliterarisch gar nicht ist, darüber hat die Literaturkritik (nach den Kollegen aus Pop, Kino, Mode) erst sehr spät angefangen zu schreiben. Die Kriterien? Die findet man bei Roland Barthes oder in der Allegra. Herzlich willkommen in der Popkultur.

Seit Peter Handke gehören Soundtracks zur Literatur dazu, und wenn man heute gleich eine CD zu einem Buch dazubekommt, wenn DJs bei Lesungen auflegen, dann kann man das natürlich doof finden, aber man wird es begründen müssen. Diese Begründung wird dann wohl eine Literaturkritik sein. Und zwar eine, die auf ein bestimmtes Wissen zurückgreift: Man muss heute nicht mehr unbedingt erklären, an welche Stelle im Bücherregal man eine Neuerscheinung nun einsortieren muss, sondern man muss sich eben manchmal fragen, zwischen welchen Schallplatten man die paar Seiten Papier abstellen sollte: „Wir hörten Massive Attack und rauchten und fuhren die Frankfurter Allee wohl eine Stunde lang rauf und runter, bis Stein sagte: Verstehst du’s?‘ “ (Judith Hermann, „Sommerhaus, später“). Das Kriterium? Kanon.

– Judith Hermann versteh ich nicht.

– Ich finde Massive Attack scheiße. (Das Gespräch nimmt eine unerwartete Wendung.)

Herr Politycki hat noch eine Entdeckung gemacht. Es gibt nicht mehr den Autor, sondern nur noch den „Autorendarsteller“. Stimmt. Und? Die „Autorendarsteller“ sind in den meisten Fällen interessanter als die „Autoren“, und gehören – siehe Kracht, siehe Stuckrad-Barre – offensichtlich zu ihrem Werk dazu. Das zu erklären, ist interessanter, als auf 200 Zeilen sein Befremden gegenüber dem Werk im engeren Sinne auszudrücken. Oder eines dieser langweiligen Porträts zu schreiben, die unbedingt „Autor“ und „Darsteller“ wieder auseinander dividieren wollen.

Wenn ein Buch unbedingt mehr sein will als ein Buch, und ein Autor ein Darsteller – warum sollte gerade die Literaturkritik auf dem Gegenteil beharren? Warum sollte die Literaturkritik langweiliger als die Literatur sein? Ist doch toll, wenn jemand erklären kann, wie die Textur eines Romans ins Gewebe eines Zweireihers überläuft und umgekehrt. Das ist mindestens so interessant wie die Frage, was der Anzug gekostet hat, bzw. was Kiepenheuer und Witsch heute für Vorschüsse zahlen: die Ökonomie, auch ein Kriterium.

„Das sind ja keine Romane, die da geschrieben werden“, beklagen sich die einen, und die anderen sagen: „Na, gut, wenn das keine Romane mehr sind, die wir hier lesen, dann schreiben wir eben Literaturkritiken, die keine mehr sind.“ In solchen Texten, die im schlechtesten Fall auf dreißig Zeilen zusammengekürzt in irgendeinem Stadtmagazin gedruckt werden, zuweilen im jetzt-Magazin erscheinen und mit viel Glück auch mal andernorts, wird herumprobiert.

Die Literaturkritik ist nicht in der Krise, sondern in einer Experimentierphase. Es entstehen neue Formen. Es wird subjektiv geschrieben – „Ich erzähl jetzt erst mal, wie es in meinem Zimmer gerade so aussieht, und dann schreibe ich über das Buch.“ Verrisse? Man entwirft komplizierte Argumentationsmuster, entwickelt Kriterien, verwirft sie wieder und endet schließlich in einem einzigen, vernichtenden Urteil: „Nicht cool.“ Oder man macht Listen: die zehn wichtigsten Wohlfühlbücher, die fünf langweiligsten Bücher von Peter Handke, achtzehn Möglichkeiten, über ein Buch zu reden, ohne es gelesen zu haben. Ganz selten auch erzählt jemand eine ganze eigene Geschichte, löst sich in der Besprechung vom Gegenstand, ohne ihn dabei zu verlieren, und das ist dann das Schönste: Dann ist die Literaturkritik die Party. Das ist leider selten, und wer das Talent dazu hat, landet heute auch schnell am Anfang des Verwertungszusammenhangs.

– Wie alt sind Sie denn, wenn ich mal fragen darf?

– So gerade 30. (wird rot)

– Dann müssen Sie ja auch bald mal ein Buch schreiben. (lacht)

In dem Tagebuchroman „Mai 3D“, der in diesem Frühjahr erschienen ist und an dem unter anderem Alexa Hennig von Lange mitgeschrieben hat, gibt es eine junge Frau namens Kathrin, die so ziemlich alles kann: Filme machen, Artikel schreiben, Drogen nehmen, Künstlerin sein, Geld verdienen. Kathrin, und alleine für diesen Neologismus ist der Roman sehr zu loben, leidet unter der beunruhigenden Krankheit „Multitalentose“. Das ist die Krankheit einer ganzen Generation: „Heute Künstler, morgen Doktorand, übermorgen Trash-Model.“

„Mai 3D“ ist junge deutsche Literatur, wird in der Bild als Fortsetzungsroman gedruckt und erreicht damit gut vier Millionen Leser. Viele Rezensionen sind zu diesem Roman allerdings noch nicht erschienen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass „Mai 3D“ auf den ersten Blick „wenig Substanz“ hat, mehr „Produkt“ als „Buch“ ist und eine traditionelle Rezension wahrscheinlich noch nicht mal ein gelangweilter Verriss wäre – gelesen hat dieses Buch so ziemlich jeder jüngere Literaturkritiker, den ich kenne, eine Rezension schreibt keiner. Vielleicht ist das das eigentliche Probleme: Die „Multitalentose“ macht uns Angst, der Neidkomplex wartet gleich nebenan und beide machen uns zuweilen einfallsreich, oft aber auch einfach stumm.

– „Mai 3D“ ist nicht cool.

– (zustimmendes Gemurr)

– Dann eben Judith Hermann.

„Sommerhaus, später“ ist eines der wichtigsten Debüts der Neunzigerjahre. In der FAZ erschien eine Rezension dieses Buches, die allgemein als großes Lob angesehen wurde. Neben der „Formsicherheit“, die im Durchschnitt alle drei Tage in den Feuilletons einem literarischen Werk zugesprochen wird, war es vor allem eine Sache, die anscheinend als Lob gemeint waren: die „Emotionslosigkeit“ und „Kommunikationsunfähigkeit“ der Figuren. Was ihn daran so fasziniert hat, hat uns der Rezensent Florian Illies, der inzwischen besagtes Buch über die „Generation Golf“ geschrieben hat und genau ein Jahr jünger ist als Judith Hermann, nicht erzählt. Ich würde das gerne wissen. Ich konnte Judith Hermanns Erzählungen nämlich nicht zu Ende lesen, so nahe sind sie mir gegangen. Herrn Politycki, Herrn Greiner und all die anderen würde das wahrscheinlich nicht interessieren. Vielleicht macht man einfach mal eine Party ohne sie?

– (zwei junge Männer beginnen ein Gespräch über Handys)

– Taxi!

– Kann mal einer die Musik lauter stellen?