Der Informant

aus Hongkong SVEN HANSEN

Es piept. Frank Lu Siqing drückt in Hongkong auf den Knopf des kleinen Pagers an seinem Gürtel. Im Display erscheint eine Nummer aus der chinesischen Provinz Sichuan. Lu greift zum Telefon, wählt die angezeigte Nummer. Ein Informant. Er berichtet, dass 500 Bergarbeiter die Eisenbahnstrecke von Guiyang nach Kunming blockieren. Sie wollten damit gegen die Entlassung von 40.000 Kumpeln protestieren. Lu lässt sich Details berichten. Danach ruft er bei der betroffenen Mine an. Er stellt sich als Mitarbeiter eines Bahnhofs an der blockierten Strecke vor und erkundigt sich nach den Gründen.

Über 700 Meldungen im Jahr

Am anderen Ende der Leitung schöpft man keinen Verdacht und räumt ein, dass die Minenfirma den Kumpeln noch Löhne schulde. Heimlich schneidet Lu das Gespräch mit. Anschließend ruft er – sich wieder als Bahnhofsmitarbeiter ausgebend – im zuständigen Polizeirevier an. Ihm werden weitere Details bestätigt. Als er sich der Fakten sicher ist, schreibt er eine Pressemeldung auf das Briefpapier seines Informationszentrums und schickt sie an knapp 100 Medien vor allem in Peking und Hongkong. An diesem Tag greifen die Korrespondenten von BBC und DPA Lus Meldung auf und berichten unter Berufung auf das Informationszentrum über den Protest. In der Volksrepublik selbst verbreiten die chinesischen Dienste von Radio Free Asia, BBC und Radio France International Lus Meldung per Kurzwelle.

Ein westlicher Diplomat in Hongkong bezeichnet die Arbeit von Frank Lu Siqing als „sehr sinnvoll“. Er schätzt, dass „etwa 80 Prozent aller Meldungen aus China über politische Demonstrationen, Streiks oder religiöse Proteste vom Informationszentrum“ stammen. Lu veröffentlichte vergangenes Jahr nach eigenen Angaben 703 Meldungen über Menschenrechtsverletzungen und Proteste in China. 1998 waren es 535, 1997 erst 135. Vergangenes Jahr hätten allein die drei großen Agenturen AFP, AP und Reuters aus Lus Meldungen 1.600 Nachrichten gemacht. Meldungen wie die gestrige über einen Brief, in dem neun Dissidenten aus der Provinz Liaoning die Freilassung aller politischen Gefangenen fordern – pünktlich zum elften Jahrestag der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung.

Im Hongkonger Viertel Hunghom. Unten in der Gasse werden Autos repariert, im 8. Stock des fahrstuhllosen Altbaus ist das „Informationszentrum“ – ein vier und ein zehn Quadratmeter großes Zimmer, in denen Lu mit seiner Frau zur Untermiete wohnt. Gäste finden nur auf dem Ehebett Platz, von wo aus Lu auch seine Berichte verbreitet.

In dem kleineren Zimmer steht ein Computer eingezwängt zwischen Kühl- und Kleiderschrank, darüber ein kombiniertes Druckerfaxgerät. Vor dem Rechner kann Lu nur bei geschlossener Tür sitzen. Deshalb hat er eine ferngesteuerte Tastatur und seinen Computer an einen der zwei Fernseher im Schlafzimmer angeschlossen. So kann er auf dem Bett E-Mails schreiben oder im Internet surfen und muss nicht immer aufstehen, wenn seine Frau zur Kochecke oder Toilette vor der Tür will. Über dem Bett biegen sich Regalbretter unter Zeitungen. Am Fußende zwei Telefone und Videorecorder, ein Aufnahmegerät und ein weiteres Fax. An die Wand sind Nummern und Notizen gekritzelt. Gefüllte Plastiktüten hängen von der Decke.

„Solange man sich nicht als Journalist oder Mitarbeiter einer Menschenrechtsorganisation zu erkennen gibt, bekommt man in China meist Auskunft“, sagt Lu. „Einmal habe ich ein Krankenhaus angerufen und mich als Bruder eines dort eingelieferten Dissidenten ausgegeben. Ich wurde direkt zu ihm durchgestellt.“ Lus Hongkonger Pagernummer 192-1930604 kann von der Volksrepublik aus zum Ortstarif angerufen werden. „Meine Informanten können mich gefahrlos über öffentliche Telefone erreichen. Die Anrufer können auch dann nicht identifiziert werden, wenn ich zurückrufe“, erklärt Lu. Er habe ein landesweites Netzwerk von tausend Informanten.

In der ersten Zeit nach seiner Flucht aus China war Lu sehr von den vielen politischen Informationen, die in Hongkong plötzlich zugänglich waren, beeindruckt. Er begann, Hongkonger Zeitungsberichte an Dissidenten in China zu schicken. Und stieß bei anderen Aktivisten damit auf Kritik. „Einige haben behauptet, man könne Chinas Dissidenten nichts gefahrlos schicken. Aber das stimmt nicht. Ich lasse das Material nach China schmuggeln, von wo es dann unauffällig verschickt wird. Die Dissidenten bitten mich um das Material.“

Lu soll Dissidenten gefährdet haben

Lu bekam so zahlreiche Kontakte im ganzen Land. Die erwiesen sich als nützlich, als sich der Informationsfluss 1996 umkehrte. „Damals half ich dem bekannten Dissidenten Wang Xizhe bei der Flucht nach Hongkong. Kurz vor Hongkongs Übergabe an China war das eine große Mediengeschichte.“ Lu erkannte die Wichtigkeit von Berichten aus Chinas Dissidentenszene und verbreitete fortan Informationen aus der Volksrepublik.

Doch er stieß auf viel Ablehnung bei anderen Aktivisten der Demokratiebewegung. In Hongkong wollte sich noch vor drei Jahren kaum einer positiv über Lu äußern. „Ich kannte seine Hintergründe nicht und traute ihm nicht“, sagt heute Lee Cheuk-yan, einer der Organisatoren der jährlichen Gedenkkundgebung zum Tiananmen-Massaker. „Ich weiß immer noch nicht, woher er seine Informationen hat. Aber heute genießt Lu großes Ansehen der Medien und in China selbst. Dadurch hat er mehr Kontakte, kann auf mehr Quellen zurückgreifen und besser arbeiten. Inzwischen sehe ich seine Arbeit als hilfreich an.“

Gerüchte, Lu würde Berichte verfälschen, ließen sich nie beweisen. „Lu hat gelernt und ist heute zuverlässiger. Zu Beginn hat er sich nicht genug abgesichert“, sagt Han Dongfang, ein Gewerkschaftsaktivist und außer Lu einer der wenigen in Hongkong verbliebenen Dissidenten. „Wir brauchen jemanden wie ihn, damit die Welt erfährt, was in China passiert. Alle sind jetzt mit Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation beschäftigt, doch darüber gerät die Repression in Vergessenheit.“ Lu räumt ein, anfänglich seine Informationen zu wenig überprüft zu haben. Ihn ärgert noch immer, dass er einmal berichtet habe, ein Dissident sei zu sieben statt zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Auch sei er zu konfrontativ gewesen. „Ich habe oft in meinen Meldungen die Kommunistische Partei verurteilt. Doch Informationen wären hilfreicher gewesen.“

Kritik erntete Lu auch, als er im Frühjahr 1997 Selbstverbrennungen von Dissidenten in Hongkong ankündigte. Vor der Rückgabe an China verhandelten westliche Regierungen diskret über die Aufnahme von in der Stadt lebenden Dissidenten, die trotz Pekings Zusicherungen („ein Land – zwei Systeme“) auf keinen Fall mit Hongkong an China zurückkehren wollten. Als die Gespräche einigen Betroffenen nicht schnell genug gingen und sie nicht in ihren Wunschländern aufgenommen werden sollten, machte Lu sich zum Sprachrohr ihrer Selbstverbrennungsdrohung. Damit gefährdete er nach Meinung eines Menschenrechtsaktivisten, der in die Verhandlungen involviert war, das gesamte Asylprojekt. Lu reagiert noch heute auf die Kritik gereizt und sagt: „Ich habe doch nur weitergegeben, womit ein Dissident gedroht hat.“

Inzwischen hat sich Lu mit seiner Arbeit etabliert und erntet selbst bei denjenigen Dissidenten Respekt, die ihn argwöhnisch beobachten. „Ich traue ihm nicht, denn er leistet so unglaubliche Arbeit, das kann einer allein unmöglich schaffen“, sagt ein bekannter in den USA lebender Dissident, der ungenannt bleiben möchte. Er vermutet hinter Lu den chinesischen Geheimdienst, räumt jedoch ein, keine Beweise zu haben. „Wie kann er über Jahre mit so wenig Mitteln so viel Meldungen verbreiten?“

Das Misstrauen der Dissidenten

Er brauche nicht viel, sagt Lu. 90 Prozent seiner Ausgaben seien für Telefonkosten. Im Juni und Juli 1999, zum zehnjährigen Jahrestag des Tiananmen-Massakers und bei der Niederschlagung der Falun-Gong-Bewegung, hätten die Telefonkosten den Höchststand von jeweils 2.000 US-Dollar erreicht. Wegen der Liberalisierung des Telefonmarktes seien die Gebühren jedoch ständig gesunken. Er bekomme einige Spenden aus Hongkong, doch hauptsächlich finanziere ihn seine Frau: „Sie arbeitet bei einem Arzt im Krankenhaus. Ich selbst arbeite drei bis vier Stunden am Tag als Programmierer für einen Freund“, sagt Lu. Insgesamt arbeite er 14 bis 16 Stunden täglich, sieben Tage die Woche.

„Er ist wie eine Kerze, die an beiden Seiten brennt“, sagt Louisa Coan von der US-Stiftung National Endowment for Democracy. „Ich frage mich, wie lange er das durchhält.“ Er könne schon Mitarbeiter gebrauchen, sagt Lu. Aber wo solle er sie unterbringen? „Außerdem müsste ich ihnen hundertprozentig vertrauen können.“ Er signalisiert, dass er lieber Einzelkämpfer ist. Mit seinem ausgeprägten Ego und seinem Misstrauen gegenüber anderen unterscheidet er sich nicht von vielen anderen chinesischen Dissidenten. Deshalb ist ihre Szene auch so stark fragmentiert.

In Hongkong arbeitet Lu bisher ungestört von den lokalen Behörden. Doch er fürchtet das Antisubversionsgesetz. „Wenn das kommt, kann ich große Schwierigkeiten bekommen.“ Der Artikel 23 der Hongkonger Verfassung sieht ein Verbot „jeglicher Aktivitäten von Verrat, Sezession, Aufruhr, Subversion gegen die zentrale Volksregierung“ vor. Strafbar seien auch der Diebstahl von Staatsgeheimnissen, politische Aktivitäten ausländischer Organisationen oder die Zusammenarbeit mit solchen. Erst kürzlich forderte ein Vertreter Pekings das Hongkonger Parlament zur Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes auf.

Doch das ist nichts alles. Chinas Behörden gingen schon mit Psychoterror gegen das Zentrum vor. „In der Provinz Guangdong wurde ein Fax programmiert, das ständig bei mir anrief und Müll auf mein Fax schickte. Das ging mehrere Tage und Nächte und verstopfte meine Leitung.“ Seither hat Lu mehrere Leitungen.