Buchstabieren, nicht bellen

In der Fremde der eigenen Sprache: Ab morgen läuft im Eiszeit-Kino die Interviewserie „Das große ABC von Gilles Deleuze“. Eine philosophische Begegnung mit dem Intellektuellen- und Hundehasser

von DETLEF KUHLBRODT

Die Helden der Philosophie sind rar. Leidenschaftliche Autoren, die jenseits des Akademischen schrieben, ohne in allseits kompatible Allgemeinplätze zu fallen, Intellektuelle, deren nächstes Buch man ersehnte, weil man darin Gedanken größter Wichtigkeit vermutete, sind nahezu ausgestorben. Der Philosoph Gilles Deleuze gehörte wie Foucault und Derrida zur letzten Generation der großen engagierten Intellektuellen, mag sein Verständnis von Engagement (für Irre, für Strafgefangene) auch ein ganz anderes gewesen sein als das von Sartre, Beauvoir und anderen.

Anders als die von Marxismus und Psychoanalyse geprägten Nachkriegsexistenzialisten ging er nicht vom – ohnehin eurozentristischen – Konzept des Menschen als Mangelwesen aus, dessen Begehren immer nur darauf ziele, einen unmöglichen Zustand der Ganzheit wieder herzustellen, und in dessen regressiven Träumen, Delirien, Fantasien es immer nur um das Kleinfamilientheater ginge. Wo andere immer wieder nur Papa und Mama entdeckten, sah er vieles: Stämme, Rassen, Tiere, Wüsten, eine Menschheitsgeschichte, die über den Menschen hinausgeht. Das Unbewusste war ihm eine Wunschmaschine, die ganz unprivatistisch funktionierte, die psychische Krankheit nicht Reduktion, sondern Produktion. Die Psychiatrie verachtete er naturgemäß zusammen mit Foucault.

Wie die taz in ihrer Anfangszeit lehnte er das stellvertretende Sprechen ab und fragte sich stattdessen: „Wie kann man nur dahin kommen zu sprechen, ohne etwas vertreten zu wollen, wie kann man diejenigen zum Sprechen bringen, die nicht das Recht dazu haben?“ („Unterhandlungen“).

Der Einfluss seines zusammen mit dem Psychoanalytiker und Freund Felix Guattari geschriebenen „Anti-Ödipus“ (1972) entsprach dem von Kerouacs „On the Road“. Nicht nur in Paris hatten Studenten sexbefreierische Anti-Ödipus-Gruppen gegründet, die das Buch als Aufruf zur festlichen Orgie (miss)verstanden. Trotz seines Ruhms galt er in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten eher – nun ja – als verführerischer Poser, vor dem man sich hüten müsse. Fürs Feuilleton dagegen war er wieder zu kompliziert. Das steigerte nur seine Anziehungskraft auf Studenten. Im Berlin der Achtzigerjahre lief eigentlich jeder, der ernst zu nehmen war, mit den kleinen Deleuze-Bändchen vom Merve-Verlag in der Tasche rum, in den Neunzigerjahren benannte sich ein Technolabel nach einem seiner Bücher, und die Volksbühne veranstaltete einen Deleuze-Kongress, der später dann auch nach Prag exportiert wurde.

Das „Eiszeitkino“ zeigt nun das deleuzianische ABC, eine insgesamt achtstündige Reihe mit Interviews, die die Journalistin Claire Parnet zwischen 1988 und 1989 mit dem Philosophen gemacht hatte, der „in seiner eigenen Sprache wie ein Fremder“ sein wollte. Ursprünglich sollten die Interviews mit dem kamerascheuen Pulloverträger erst nach seinem Tod gesendet werden. Sie wurden dann doch im Winter 94/95, ein Jahr vor seinem Tod, auf Arte ausgestrahlt.

Das Szenario ist wohltuend einfach: Gilles Deleuze sitzt entspannt vor einer rotbraunen Kommode. Auf der Kommode sieht man undeutlich verschwommen das Gesicht von Claire Parnet in einem Spiegel. Selten nur gibt es mehr als eine Kameraeinstellung. Die Fingernägel des Philosophen, der die Intellektuellen verachtete, sind nicht so lang, wie man dachte. Oft waren ihm ja seine langen Fingernägel zum Vorwurf gemacht worden, und es wurde moniert, das sei doch lediglich eine divenhafte Attitüde. Ihm fehlten „die üblicherweise schützenden Fingerlinien, so dass es einen nervösen Schmerz verursacht, wenn ich mit meinen Fingern einen Gegenstand und besonders Stoff berühre, was den Schutz durch lange Fingernägel erfordert“, erklärte dagegen Deleuze (in „Unterhandlungen“).

Jede Sendung ist einem Begriff gewidmet – von A wie „Animal“ bis zu Z wie „Zig Zag“. Es geht um die Grundbegriffe der deleuzianischen Welt: Territorialisierung, De- und Reterritorialisierung, es geht um die Kindheit (e wie enfance), die ihn als Privatgeschichte nicht interessiert, um die reiche Zeit nach der Befreiung, um Alkohol und Drogen oder um Tiere. Er mag keine Hunde: „Was ich ihnen vorwerfe: das Bellen. Das Bellen scheint mir der Dümmste aller Schreie zu sein.“

Und immer wieder geht es um das Schreiben, das sich nicht im Erzählen kleiner Privatgeschichten erschöpfen, keine Privatsache sein dürfe, sondern transformatorisches Medium. „Denn durch die Schrift wird man zum Tier, durch die Farbe wird man unsichtbar, und durch die Musik wird man hart wie ein Diamant und hat keine Erinnerung mehr, Tier und unsichtbar zugleich: verliebt“ („Milles Plateaus“). Oft konnte der Philosoph auch sehr pathetisch sein.

„Das große ABC von Gilles Deleuze“. In sechs Teilen ab 1. Juni täglich um 19 Uhr im Eiszeit-Kino, Zeughofstraße 20