Spielräume fürs Miteinander

Eine dreitägige Veranstaltung des Goethe-Forums versuchte in München ein Bild europäischer Identität in Zeiten von Mobilität, Migration und Globalisierung zu zeichnen

„Die Kultur Europas gibt es nur im Plural.“ Schon mit ihrer Eröffnung der ersten Podiumsdiskussion zur „Rolle der nationalen Kulturinstitute bei der Schaffung einer europäischen Identität“, stellte die Literaturkritikerin Sigrid Löfflerklar, dass nicht eine, sondern eine Vielzahl europäischer Identitäten existierten. Angesichts allgegenwärtiger kultureller Differenzen komme dem Projekt „Europa“ die Aufgabe zu, Spielräume für das Miteinander der unterschiedlichen Kulturen zu schaffen.

Mit einem dreitägigen Mosaik aus Diskussionen, Vorträgen und künstlerischen Darbietungen versuchten das Goethe-Forum und das Münchener Stadtforum, ein Bild „europäischer Identität in Zeiten von Mobilität, Migration und Globalisierung“ zu zeichnen. Diese Suche nach der europäischen Identität mag aus der Perspektive Sigrid Löfflers müßig oder zumindest sekundär erscheinen. Und doch warf schon die Eröffnungsveranstaltung, zu der man Vertreter der nationalen europäischen Kulturinstitute wie British Council, Institut Français oder Instituto Cervantes und nichtstaatliche Kulturvermittler eingeladen hatte, eine Fülle alter wie neuer Fragen auf.

Wo fängt Europa an, wo hört es auf? Welchen Status und wie viel Unabhängigkeit brauchen nationale Kulturinstitute, um glaubwürdig zu sein? Wie lässt sich Dialogfähigkeit entwickeln oder: wie ein Kontrapunkt zur herrschenden Markenkultur setzen? Was bedeutet public-private partnership, wenn der Etat eines Konzerns wie AOL zwanzigtausendmal größer ist als der der BBC? Gérald Drubigny vom Institut Français fragte sich und seine Kollegen: „Sind wir überhaupt fähig zur Zusammenarbeit?“ Philip Dodd, der Direktor des Londoner Institute for Contemporary Art, forderte einen Wandel im Rollenverständnis traditioneller kultureller Institutionen, vom Produzenten hin zum Agenten. Muss man einen europäischen Kulturbegriff überhaupt definieren, oder ergibt er sich – wie das Sabine Rollberg, ARTE-Korrespondentin beim WDR, am Beispiel des deutsch-französischen Senders erläuterte – aus der schieren Addition des Programms? Was bedeutet die geplante Osterweiterung Europas kulturell, ist sie – wie der ungarische Schriftsteller György Dalos meinte – tatsächlich ein Mittel der Westerweiterung für die Staaten Osteuropas?

An Diskussionsstoffen hat es in München mithin wahrlich nicht gemangelt – allein man kam auf dem Podium nicht miteinander ins Gespräch: Es blieb beim öden Frage-und-Antwort-Spiel, und die zweite Fragerunde war dann auch schon die letzte, weil der Saal nach knapp 90 Minuten für die nächste Veranstaltung geräumt werden musste.

Außer Spesen nichts gewesen? Nicht ganz. Dass es auch anders geht, bewies am nächsten Abend die „Jetzt“-Generation mit einem Podiumsgespräch über „Die schöne neue Euro-Welt zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ – aber als die jungen Leute mit ihren internationalen Lebensläufen diskutierten, da waren Frau Löffler und die Mehrzahl ihrer Podiumskollegen schon längst nicht mehr da.

Es entging ihnen auch der Perspektivenwechsel, der sich tags darauf vollzog: Außereuropäische Pressekorrespondenten blickten von außen auf ein Europa, das es gewohnt ist, die Welt aus eurozentrischer Sicht zu betrachten. Dabei zeichneten sie weitgehend übereinstimmend das wenig schmeichelhafte und eher düstere Bild eines – wie es der Inder Thomas Abraham nannte – „Nabelschau betreibenden Kontinents, der keine klare Vision einer Zukunft hat“. Für den Nabel der Welt halten dagegen Inder wie Israelis heute Amerika. Und auch aus amerikanischer Perspektive ruht sich Europa auf den Meriten seiner Vergangenheit aus, anstatt sich der Zukunft zu öffnen. Roger Cohen von der New York Times sprach vom Unverständnis und der Verwirrung, mit der Amerikaner heute auf Europa schauten. Schwierig zu verstehen sei zum Beispiel für sie, dass zwar eine gemeinsame europäische Währung, aber keine einheitlichen Steuergesetze geplant seien. In einem klassischen Einwanderungsland wie Amerika seien überdies die Angst der Europäer vor Fremdem und die Tendenz, Immigration als Gefahr und nicht als Chance zu begreifen, nicht nachvollziehbar. Alles in allem scheint Europa für Nichteuropäer längst nicht mehr so attraktiv zu sein, wie Europäer zu glauben geneigt sind.

Einig waren sich die Podiumsteilnehmer im Befund eines Versagens der politischen Führung: Ihr sei es nicht gelungen, dem Bürger die Vision eines vereinigten Europas zu vermitteln. Ob es sich dabei wirklich nur um ein Vermittlungsproblem gehandelt, ob nicht vielleicht auch die Vision selbst versagt hat, gab Thomas Abraham zu bedenken. Schließlich sei es mit der Überwindung der politischen Teilung Europas nach 1989 zu einer neuen Teilung gekommen, der in Arm und Reich. Die Forderung von Moderator Johannes Willms, die Idee Europas auch für die Menschen auf der Straße mit Bedeutung zu füllen, konterte der Libanese Hazem Saghieh mit der Frage, von welchem Europa denn da die Rede sei, von dem auf den Mittelmeerraum konzentrierten französischen, dem an Ost- und Mitteleuropa orientierten deutschen oder dem britischen.

Wenn am Ende dieser Diskussion einmal mehr die Notwendigkeit einer größeren Offenheit gegenüber Fremden festgestellt wurde, so war das nichts Neues. Vor allem war damit nichts darüber gesagt, wie denn eine solche Offenheit herzustellen sei. Wahrscheinlich hat in der Tat Michael Franti von den Disposable Heroes of Hiphoprisy Recht, den die Münchener Journalistin Judith Schnaubelt schon am Vortag zitiert hatte: „We don't need more information, but more inspiration.“ Bemerkenswert auch, dass die Korrespondenten aus den außereuropäischen Ländern wenig über Sprache, Kultur und Bildung redeten – über jene Begriffe, die dem Generalsekretär des Goethe-Instituts, Joachim Sartorius, in seiner Begrüßung zu Beginn der Veranstaltungsreihe so wichtig waren, begreift er doch Integration als kulturelle Frage, weil die Kultur Mehrfachidentitäten erlaubt. Thomas Abraham stellte dagegen die Politik in den Mittelpunkt: In Indien gebe es eben nicht nur eine Fülle bestens ausgebildeter Informatiker, sondern auch eine gebürtige Italienerin, die sich anschicke, die nächste Premierministerin des Landes zu werden . . .

RUTH SPIETSCHKA