Das Schema „Einmal Verbrecher...“

LKA prüft bei 22.000 „Wiederholungstätern“, ob sie einen Gentest machen sollen – notfalls zwangsweise. Häftlinge erhalten angeblich stationsweise Aufforderungen  ■ Von Kai von Appen

Der Fahndungerfolg nach dem Mord an der elfjährigen Christina Nytsch aus Cloppenburg hatte den Staatsorganen im Jahr 1998 Rückenwind gegeben. Durch den größten Massen-Gentest in der bundesdeutschen Kriminalgeschichte konnte damals im April der 30-jährige Ronnie Rieken als Mörder überführt werden. Im September 1998 gab die CDU/FDP-Regierung den Strafverfolgungsbehörden – weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit – ein neues Allround-Instrument an die Hand: das „DNA-Identitätsfeststellungsgesetz“, das die präventive DNA-Analayse per Speicheltest ermöglicht. In Hamburg werden derzeit 22.000 sogenannte „Wiederholungstäter“ daraufhin überprüft, ob sie einem Gentest unterzogen werden sollen – notfalls zwangsweise.

Hans-Joachim Gruschka (54) hält bereits die dritte Vorladung des Hamburger Landeskriminalamtes (LKA) in den Händen, mit der er ins Polizeipräsidium zum „Mundabstrich“ zitiert wird. Gemeint ist eine Speichelprobe, die molekular-gentechnisch untersucht wird, und dann als „genetischer Fingerabdruck“ in der Gendatei des Bundeskriminalamtes (BKA) gespeichert werden soll. Gruschka saß in den siebziger Jahren wegen eines schweren Eigentumsdeliktes lange im Knast, dann noch einmal kürzer bis Ende 1999. „Die Maßnahme hat den Zweck, Sie eventuell in künftigen Strafverfahren identifizieren oder als Straftäter ausschließen zu können,“ so das LKA-Schreiben, „vorsorglich werden Sie darauf hingewiesen, dass die Entnahme von Körperzellen auch mit Zwangsmitteln durchsetzbar ist, in der Regel als Blutprobenentnahme.“ Da Gruschka auch der dritten Vorladung ferngeblieben ist, rechnet er demnächst mit seiner vorübergehenden Festnahme, damit ihm die Kriminalisten des „LKA23/DNA“ die begehrten Blutstropfen mit Gewalt abnehmen können.

Das Hamburger LKA hat aus dem Bundeszentralregister die Daten von 22.000 „Gewalt-, Trieb- oder Serientätern“ angefordert – das DNA-Gesetz machts möglich. „Das ist eine theoretische Gesamtmenge“, erklärt Polizeisprecherin Ulrike Sweden. KriminalbeamtInnen werden in der nächsten Zeit anhand von Akten die gespeicherten Daten überprüfen. Bei einer „negativen Nachprognose“ beantragt die Polizei bei der Staatsanwaltschaft, den gespeicherten Datensatz (Vorstrafenregister, Fingerabdrücke, Haarproben) durch den „genetischen Fingerabdruck“ zu ergänzen. Die Staatsanwaltschaft prüft dann nocheinmal. Die endgültige Entscheidung fällt das Gericht. Theoretisch.

Im Gefängnis Fuhlsbüttel allerdings „erhalten die Insassen stationsweise die Aufforderung zur DNA-Analyse“, berichtet Gruschka von seinen letzten Knast-Erfahrungen. Dies unterstreicht auch der Hamburger Anwalt Jürgen Schneider, der Betroffene vertritt: „Man sollte die Zahl nicht unterschätzen.“ Viele Strafgefangenen würden sich aus Unwissenheit und Angst vor Repressalien oder Nachteilen im Knast auf Anforderung dem „freiwilligen“ Gentest unterziehen.

Für Hamburgs Datenschutzbeauftragten Hans-Herrmann Schrader ist der „freiwillige Gentest“ in Haft unzulässig. „Eine wirksame Einwilligung setzt voraus, dass sie frei von psychischen Zwang freiwillig erfolgt“, kritisiert er, „davon ist im Gefängnis kaum auszugehen“. Die präventiven DNA-Analysen bedürften daher einer richterlichen Anordnung: „So steht es im Gesetz.“

Justizbehördensprecherin Simone Käfer bestätigt, dass Hamburg in seinen Knästen – angeblich auf freiwilliger Basis – bei der Erstellung einer „bundesweiten Gendatei mitmacht“. 350 Gefangene haben 1999 eine entsprechende Aufforderung erhalten. Wieviele davon tatsächlich ihre Spucke hinterlassen haben, so Käfer, sei unbekannt. Waren anfangs ausschließlich Sexualstraftäter im Visier, so sind heute auch Personen, die wegen Einbruchsdiebstählen oder anderer Delikte sitzen, betroffen. „Eine Genprobe kann da von erheblicher Bedeutung sein“, sagt Käfer, „wenn zum Beispiel nach einem Einbruch eine Kippe gefunden wird.“

Das sieht auch das Gesetz so: Bei seiner Formulierung konnte der damalige Innenminister Manfred Kanther (CDU) die präventive Erfassung von Daten in Gendateien nicht nur bei Mord und Sexualverbrechen durchsetzen, sondern bei jeder Art von „Straftaten von erheblicher Bedeutung“. Was kaum jemand bemerkte: Im März 1999 sattelte die neue Bundesregierung aus SPD und Grünen – früher Kritiker von Massengentests – noch eins drauf: Das „DNA-Änderungsgesetz“. Innenminister Otto Schily (SPD) erweiterte den „Straftatenkatalog“ um beispielsweise Körperverletzung, Einbruch und Diebstahl. „Sexualdelikte“, konstatiert Ute Wagenmann vom Gen-ethischen Informationsdienst in Berlin, „dienen nur noch als Trojanisches Pferd“.

Zu den „Katalogtaten“ gehören nun übrigens auch die „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ und andere politisch motivierte Straftaten – egal, ob diese ausdrücklich im Gesetz aufgeführt sind. Weitere rot-grüne Verschärfung: Heute kann potentiell nicht nur jeder Vorbestrafte, sondern auch jeder „Verdächtige“ einem DNA-Test unterzogen werden. Und auch, wenn er nicht verurteilt wird, bleiben seine Daten gespeichert.

Bei Gruschka reichte eine erneute Verurteilung wegen „versuchten Diebstahls“ im Sommer 1997 durch das Amtsgericht Helmstedt. Der Wunsch nach der Entnahme des genetischen Fingerabdrucks des heutigen Alten- und Krankenpflegers kommt daher auch von der Staatsanwaltschaft Braunschweig und stößt bei der Hamburger Staatsanwaltschaft offenkundig auf volle Unterstützung. Sie beantragte beim Amtsgericht Hamburg einen entsprechenden Beschluss, den sie auch prompt bekam und zur Durchführung an das LKA weiterleitete.

Der Versuch von Gruschkas Anwältin Gabriele Heinecke, über das Landgericht eine Aufhebung der Maßnahme zu erwirken, scheiterte bei der Großen Strafkammer 12 per Formbeschluss. „Es geht nicht nur um mich, sondern um die Dimension des staatlichen Handelns“, sagt Gruschka. Er empfindet den Zwangsgentest – auch als Vorbestrafter – als staatlichen Eingriff in seine Intimsphäre und Persönlichkeitsrechte, im Juristendeutsch „informationelles Selbstbestimmungsrecht“ genannt. Unter Experten war und ist der Eingriff in der Tat ebenso umstritten und verfassungsrechtlich bedenklich wie der Große Lauschangriff.

Staatsanwaltschaftsprecher Rüdiger Bagger räumt die Brisanz der Materie ein. Angesichts der „datenschutzrelevanten Eingriffstiefe“, werde eine derartige Maßnahme nur nach „intensiver Prüfung“ angeordnet, wenn „Art und Ausführung der Tat und sonstige Erkenntnisse Grund zur Annahme geben, dass erneut eine solche Straftat zu erwarten ist.“ „Dazu müssen Akten herbeigezogen und ausführlich gelesen werden, Protokolle und Urteile intensiv studiert werden“, so Bagger. Erst nach einer „eindeutigen Negativprognose“, die „nachvollziehbar aktenkundig gemacht werden muss“ könne ein Gentest per richterlichem Beschluss angeordnet werden.

Juristen bezweifeln, dass alle Fälle wirklich gründlich geprüft werden. So wurden in Schwerin zwei Antifas, die Neonazis verprügelt hatten, in zweiter Instanz „präventiv“ zur Speichelprobe verdonnert – obwohl ihnen ein Amtsrichter eine „positive Sozialprognose“ attestiert hatte, berichtet ihr Verteidiger Jürgen Schneider. Er kritisiert, dass die Gerichte in derartigen Fällen auf Antrag der Staatsanwaltschaft „nach Schema F vorgehen“, weil die Verfahren nicht im normalen Pensumsschlüssel berücksichtigt würden – also zusätzliche Arbeit bedeuten: „Eine individuelle Prüfung findet nicht statt.“

Diese Tendenz beobachtet auch Datenschützer Hans-Herrman Schrader. Die sogenannte Erstellung der „Negativ-Prognose“ sei „unzulänglich“, mahnt er. Oft werde nach dem Schema „Einmal Verbrecher, immer Verbrecher“ verfahren. Da das DNA-Intentitätsfeststellungsverfahren aber nunmal Gesetz sei, auf den die Datenschutzbeauftragten keinen Einfluss haben, könne der Datenschutz in Hamburg nur das „begleitende Verhalten von Polizei und Staatsanwaltschaft“ kritisch unter die Lupe nehmen – und dafür sorgen, dass das „DNA-Intentitätsfeststellungsgesetz“ keine „Blankettermächtigung“ wird.