Topfentascherl und freier Wille

Das „Philosophische Diner“ widersetzt sich im Restaurant Austria freundlich lächelnd der diskursiven Beliebigkeit

Auf den Gemälden im Restaurant Austria glühen die Alpen, in einer Nische hängt ein Kruzifix, und über allem schwebt das Gefühl einer großen, warmen Freundlichkeit: „Wir befinden uns hier in einem Raum, in dem es keine Handlungsanweisungen gibt“, sagt Herr Nitsch, ein junger Mann mit einem weißen Hemd. Herr Gronke, der ihm gegenübersitzt, lächelt.

Herr Nitsch und Herr Gronke haben zum „Philosophischen Diner“ geladen: Fünfzehn Menschen werden bei einem viergängigen Menü über das Thema „Gute Tage – Schlechte Tage“ sprechen. Eine Paradeissuppe mit Käseschöberl wird serviert: „Worin besteht für Sie ein guter Tag?“ Herr K. erinnert sich an einen Abend auf dem Kreuzberg, eine Immobilienmaklerin hat einmal eine ganze Nacht lang Vertragsverhandlungen geführt. Frau D. möchte nichts sagen.

Die Philosophie, die Herr Nitsch und Herr Gronke sich vorstellen, kennt keine Fachbegriffe und folgt der „sokratischen Methode“: Aus Alltagserfahrungen werden allgemeinere Kriterien und Werthaltungen herausgearbeitet, auf die sich alle Teilnehmer einigen können. Das geht so: Katharina erzählt, wie sie einmal ganz unbeabsichtigt ein hohes „g“ gesungen hat, und Ulrike erzählt, wie sie einmal einen Tag ihr Zimmer umgeräumt hat. Das war schön, das können sich alle vorstellen, man isst Topfentascherln – und diskutiert. Am meisten Spaß hat Herr B., ein Arzt. Er spricht von „Wille“ und „Vorstellung“, und wenn andere später auf diese Begriffe zurückkommen, freut er sich sehr.

Gerade hat die große, warme Freundlichkeit von allen Besitz ergiffen – da passiert es. Der Zwiebelbraten wird serviert, und Herr Gronke sagt: „Der Tag von Katharina war der bessere Tag.“ Entsetzen! Jutta, eine ältere Dame, sagt: „Wenn hier gewertet werden soll, bin ich hier falsch.“ Frau D. nimmt eine Aspirin, Ulrike wird rot, die anderen schauen auf ihre Teller: Pause. Während der Hauptspeise darf man sich auch mal so unterhalten.

Zum Zwiebelbraten wird Blauer Zweigelt gereicht, und über dem sanft moussierenden Rotwein erkennen die Gesprächsteilnehmer die Ernsthaftigkeit des Unternehmens, die sich nicht allein am Preis von 100 Mark festmacht: Man wird nicht im postmodernen Bewusstsein nach Hause gehen, dass alles, was man sich so gesagt hat, okay ist – es geht darum, sich zu entscheiden! Die dareinst gründlich dekonstruierte Philosophie, die in den 90ern in „Sophies Welt“ nur unbeholfen wieder zusammengesetzt worden war, stellt plötzlich wieder die Wahrheitsfrage und macht in einem Kreuzberger Restaurant als gediegene Abendunterhaltung Front gegen die diskursive Beliebigkeit: Die entscheidende Schlacht gegen die Sophisten wird auf kulinarischem Terrain geschlagen.

Der Hauch von Zimt, der den Apfelstrudel umweht, überdeckt die Irritationen. Zuletzt einigt man sich als Bedingung für einen guten Tag auf den „freien Willen“, den man auch „Bereitschaft“ oder „eisernen Willen“ (die Immobilienmaklerin) nennen darf. Nur Jutta, die ältere Dame, kämpft noch für den herrschaftsfreien Diskurs: „Ich habe das Gefühl, dass hier nicht alle gleich viel sagen konnten.“ Frau D. nimmt ihre Handtasche, Herr Nitsch schüttelt Hände, und Herr B. sieht glücklich aus.

KOLJA MENSING

Das nächste Philosophische Dinerfindet am 27. Juni statt: „Will ich wirk-lich, was ich will?“ (Tel. 68 08 88 73)