Der Präsident als Staufaktor

Die Zeiten, in denen die Berliner ein amerikanisches Staatsoberhaupt mit Winkelementen empfingen, sind längst vorbei. Bill Clinton muss nicht einmal mit einer Protestkundgebung rechnen

von RALPH BOLLMANN

Eberhard Diepgen hatte den Russen viel zu verdanken. Schließlich durfte der Regierende Bürgermeister des damaligen Westberlin beim Staatsbesuch des US-Präsidenten Ronald Reagan 1987 nur deshalb eine Hauptrolle spielen, weil die sowjetische Besatzungsmacht penibel auf die Einhaltung des Viermächtestatus pochte. Und dazu gehörte, dass die Bundesrepublik ausländische Staatsgäste nicht in die geteilte Stadt einladen durfte. Offizieller Gastgeber war der Regierende Bürgermeister.

Diese Zeiten sind vorbei. Fast 48 Stunden weilt der scheidende US-amerikanische Präsident Bill Clinton, der gestern nachmittag auf dem Flughafen Tegel eintraf, in Deutschland – doch für ein Treffen mit dem Bürgermeister fand er keine Zeit. „Das ist Normalität“, sagt sein Sprecher mit demonstrativer Gelassenheit. Doch die Attacken, die Diepgen seit dem Umzug der Bundesregierung gegen die übermächtige Konkurrenz geritten hat, zeigen: Spurlos ist der plötzliche Bedeutungsverlust an dem CDU-Politiker nicht vorübergegangen. Auch wenn das Protokoll des Stadtstaats in grotesker Verkehrung der Verhältnisse wissen lässt, bei neuerdings 380 Staatsgästen pro Jahr könne der Rathauschef einfach nicht mehr jedem einzelnen die Hand schütteln.

Von der neuen Normalität in den Schatten gestellt wurden freilich auch die alten Frontstadt-Kämpen auf der anderen Seite des politischen Spektrums. Die Proteste gegen den „US-Imperialismus“, die seit der Visite Richard Nixons 1969 zum Ritual aller Berliner Gipfeltreffen gehörten, drohen mangels Masse auszufallen. Zwar ist für heute Abend eine Kundgebung ganz in der Nähe von Clintons Berliner Domizil angemeldet. Eine richtige Demonstration aber werde es nur geben, lassen die Veranstalter vorsorglich wissen, „wenn genügend Menschen zur Kundgebung kommen“.

Rar machen werden sich freilich auch jene Jubel-Berliner, die bei Besuchen ihres obersten Besatzers traditionell mit Stars and Stripes den Wegesrand säumten. Wenig Grund zur Sorge haben daher die Sicherheitsbeamten, die der Gedanke ängstigt, der Präsident könne sich spontan zu einem Bad in der Menge entschließen. Clinton wird lange suchen müssen, um eine solche Menge überhaupt zu finden.

Wenn trotzdem der eine oder andere Berliner in diesen Tagen über den Besuch aus Washington spricht, dann geht es nicht mehr um Freiheit oder Sozialismus – sondern schlicht um den Stau, den die Wagenkolonnen all jener Staatsgäste verursachen, die sich mit Clinton über „modernes Regieren im 21. Jahrhundert“ austauschen wollen. Eine Boulevardzeitung riet deshalb den Berlinern, lieber gleich zu Hause zu bleiben – und beantwortete die Frage, wo der Präsident am besten zu sehen sei, ganz kurz und bündig: „Natürlich im Fernsehen.“