Russland baut eigenes Abwehrsystem aus

Gefahr droht vor allem durch den desolaten Zustand des russischen Abwehrsystems. USA will beim Start von Militärsatelliten helfen

Die Nachricht platzte Anfang November letzten Jahres mitten in die diplomatischen Auseinandersetzungen um das US-amerikanische „National-Missile-Defense“-Programm: Russland hatte im kasachstanischen Sari-Shagan, einer seiner wichtigsten Raketentestbasen, eine neue Abfangrakete getestet, die zukünftig das Rückgrat der russischen Raketenabwehr werden soll.

Der Test sei erfolgreich verlaufen, teilte der Kommandant des russischen strategischen Raketenarsenals, General Wladimir Jakowlew, am 3. November der Presse mit. Details waren nicht zu erfahren. Die Nachricht war vor allem als Antwort auf die Raketenabwehrpläne der USA gedacht. Dabei will Russland nicht nur Druck ausüben, um das „National-Missile-Defense“-Programm zu verhindern. Es muss auch unter Beweis stellen, dass es selbst noch im Geschäft ist. Denn seine Raketenabwehr ist in einem ebenso desolaten Zustand wie der Rest des Landes.

Den Start gegnerischer Interkontinentalraketen kann Russland nach Ansicht vieler Militärexperten seit mehr als einem Jahr nicht mehr vollständig überwachen, weil viele Satelliten seines Frühwarnsystems nicht mehr funktionieren und die übrig gebliebenen nur noch eine zeitweilige Überwachung gewährleisten. Der prominente US-amerikanische Militärexperte Theodore Postol hat „Korridore“ errechnet, durch die Interkontinentalraketen nach Russland fliegen könnten, ohne von seiner Abwehr erkannt zu werden.

Die Gefahr, dass die noch funktionierenden Satelliten Fehlermeldungen abgeben und Russland daraufhin atomare Abwehr- oder Offensivraketen startet, schätzen US-Strategen als so ernst ein, dass US-Präsident Bill Clinton im vergangenen Jahr mit dem russischen Präsidenten Boris Jelzin ein Abkommen über gemeinsamen Austausch militärischer Aufklärungsdaten abschloss. Die US-Regierung erwägt – ironischerweise –, Russland beim Start von neuen Militärsatelliten zu helfen. Präzedenzfälle für Fehlermeldungen gab es mehrfach, zuletzt 1995, als das russische Frühwarnsystem eine norwegische Forschungsrakete als bewaffnetes Flugobjekt deutete.

Unklar ist auch, in welchem Zustand sich Russlands Abfangraketensystem für Interkontinentalraketen befindet. Der ABM-Vertrag von 1972 stuft das um Moskau stationierte System mit einer Reichweite von 150 Kilometern als zulässig ein. Russische Militärs behaupten, dass die Atomsprengköpfe der Abfangraketen seit mehr als zwei Jahren durch solche mit konventionellem Sprengstoff ersetzt worden seien. Daran hegen westliche Militärexperten jedoch Zweifel. Die Treffsicherheit der Abfangraketen ist so ungenau, dass nur die Auslösung einer Nuklearexplosion nahe der feindlichen Rakete deren Zerstörung gewährleistet.

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