Zarathustra im Abendanzug

Schleefkunst heißt, dass Zeigendes und Gezeigtes zusammenfallen. Schleefkunst heißt aber auch, dass im Pathetischen tückisch defätistische Botschaften gefunkt werden. Diesmal leider konzertant. Im Deutschen Theater Berlin inszeniert Einar Schleef seine Collage zum November 1918: „Verratenes Volk“

In der Schleefkunst fallen Zeigendes und Gezeigtes, Subjekt und Objekt zusammen

von PETRA KOHSE

Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, von Adam und Eva über Nietzsche ins sibirische Lager. Um Mitternacht dann, am Ende der fünften Stunde, führte die Sache ins Konversationsstück. Beiläufig disputierten die Revolutionsführer Liebknecht und Luxemburg über die Massen, bis zur Mitte der sechsten Stunde ein donnerndes „Dies irae“ die dürre Argumentation zunichte machte. Sechzig Sänger und Schauspieler mit voller Stimmkraft sind ein Fakt, dem man sich stellen muss.

In schwarzer Abendkleidung und barfuß, von unten geisterhaft beleuchtet in einem kerker- und zugleich arenenhaften Halbrund, haben sie sich an diesem Abend schon mehrfach formiert. Dies ist der letzte Auftritt, und er mündet in einen höfischen Tanz, bei dem ein Arm sich rhythmisch in die Höhe dreht und einen Moment lang dort verharrt. Jeder tanzt für sich allein, doch gleichsam ferngesteuert vom Regisseur in aller Mitte, der leise zur Wiederholung antreibt, zum fortgesetzten Anschwellen und Nicht-Nachlassen, zu einer Steigerung, die auf keinen Punkt zustrebt, sondern nach Dauer trachtet und nur aus organisatorischen Gründen abbricht und Applaus zulässt, weil sich das im Theater so gehört.

Einar Schleef hat eine neue Inszenierung herausgebracht. Wie immer ist es eine „Uraufführung“, weil alles, was er anpackt, Anspruch auf noch nie Dagewesenes erhebt, und sie heißt „Einar Schleef Verratenes Volk“. Im Untertitel: „Wir sind ein Volk. Wir waren ein Volk. Verratenes Volk“, nach Texten von John Milton („Das verlorene Paradies“), Friedrich Nietzsche („Ecce Homo“), Edwin Erich Dwinger („Armee hinter Stacheldraht“) und Alfred Döblin („November 1918“).

Ort des Geschehens ist das Deutsche Theater in Berlin. Ausgerechnet das DT, das früher einer menschenfreundlichen Klassizität huldigte, sich dann mit Thomas Ostermeier als Gegenwartstheater neu erfand, den Kurs ohne ihn aber nicht fortsetzen konnte und derzeit keinen Ruf zu verlieren hat, aber Abonnenten, versucht es mit großformatigen Deklamationen und Chorauftritten zum Thema der verlorenen Hoffnung auf eine sozialistische Revolution. Als Schleef die bereits für Anfang Mai angesetzte Premiere wegen Krankheit verschieben ließ, fühlte sich das Deutsche Theater „verraten“. Dabei bekam es einen aparten Skandal geschenkt. Etliche kannten plötzlich welche, die welche kannten, die wussten, dass der Mann nicht krank sein konnte. Denn so unerträglich im Dunstkreis des Theaters das Gewisse scheint – das Ungewisse wird noch mehr gehasst. Als bei der Premiere am Montag nicht klar war, wie lange es denn dauern würde, fünf Stunden, sechs oder mehr, verschaffte sich der innere Widerstand als Spott sein Recht: Vor Beginn parodierten frühere Kollegen Schleefs privates Stottern und witzelten über seine Arbeitsmoral.

„Das Ressentiment ist das Verbotene an sich für den Kranken, und auch sein natürlicher Hang“, heißt es bei Nietzsche. Und als Nietzsche auftrat in „Einar Schleef Verratenes Volk“ am Montagabend, war Nietzsche Schleef, und das Volk lachte. Oder kicherte doch in Teilen. Natürlich war es in seiner Monomanie lustig, dass der Regisseur, Autor, Bühnen- und Kostümbildner des Abends unerwartet noch die männliche Hauptrolle übernahm, weil der Darsteller „erkrankt“ war, und nun im dunklen Anzug an die Rampe trat, wo durch einen Schacht das einzige Licht einströmte, das die Bühne erhellte. Im ersten Teil des Abend und vor der ersten Pause hatte Inge Keller als sehr alte Dame in gleißendem Weiß an dieser Stelle gesessen und die Vertreibung aus dem Paradies nach Milton rezitiert. Und nun, nach der Pause und diabolisch ins Licht gesetzt: Schleef als Nietzsche.

„Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?“ Erstmals in seiner „Puntila“-Inszenierung am Berliner Ensemble war Schleef selbst aufgetreten, in der Titelrolle des unberechenbar diktatorischen Gutsherrn. Damals gelang es ihm in der Vermischung seiner Rollen als Puntila und Regisseur, einen Moment der Verwirrung und Auflösung ins Spiel zu bringen, das die zuchtvolle Chordramaturgie wirkungsvoll kontrastierte und unmissverständlich zeigte, worum es in seiner Arbeit geht: wie sich der Einzelne zur Masse stellt und die Masse sich zu ihm. Dass es Schleef seither nicht gelang, einen anderen Schauspieler an diesen Grat der Auflösung zu treiben, zeigt, wie persönlich sein Ansatz ist, wie wenig kommunikativ oder teilbar in seiner Realisierung. In der Schleefkunst fallen Zeigendes und Gezeigtes, Verhandeltes und Gelebtes, Subjekt und Objekt zusammen. Ähnlich radikal war der Ansatz von Artauds „Theater der Grausamkeit“. Artaud aber fehlte die gestalterische Kraft.

„Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?“ Die Nietzsche-Sätze spricht Schleef, als wären es seine. Die Textseiten fest in der Hand, doch weiterblätternd ohne hinzusehen, deklamiert er rufend in einer stakkatohaften Insistenz, die aber nicht pathetisch emotionalisieren will, sondern der Textorganisation, dem Textverständnis dient. Wie ein Mensch gewordenes Gewitter steht Schleef auf der leeren Bühne aufrecht im Licht, ein Zarathustra im Abendanzug, und tatsächlich donnert es, und das Licht wechselt, als hätte der Blitz eingeschlagen.

Etwa eine Dreiviertelstunde dauerte dieser Auftritt und machte auch den anfänglich hämisch Dazwischenrufenden bald klar, dass diese Ineinssetzung von Schleef mit dem seine Asozialität philosophisch überhöhenden Nietzsche („Warum ich so klug bin?“) nichts war, was Schleef widerfahren ist. Er hatte sie nicht ohne Selbstironie gebaut, blieb auch in der Rolle, als er einmal textlich den Anschluss verlor: „Das habe ich doch zweimal diktiert – ach ja, hier, ich hatte es gestrichen.“ Schleefkunst ist Schleefkunst oder sie ist nicht, und kennt kein Maß außer dem Takt, der sie gliedert.

„Wir sind ein Volk. Wir waren ein Volk. Verratenes Volk.“ Sehr weit spannt Einar Schleef den Bogen diesmal. Ging es bisher meist um die Ausmalung von Zuständen, wird hier Menschheitsgeschichte gerafft. Von der Vertreibung aus dem Paradies über die Exklamation des gottlosen Willensmenschen geht es um die Kehrseite der Allmachtsfantasie: um den Ersten Weltkrieg aus der Sicht deutscher Kriegsgefangener in sowjetischen Lazaretten und in Sibirien. Ein Sprecherchor, nackt unter abgerissenen Militärmänteln wie stets bei Schleef, skandiert in gleichbleibender Emphase das Grauen. Dieser Vorgang, dass zehn Schauspieler an die Rampe rennen und minutenlang wie aus einem Munde rufen, einzelne Stimmen hervortreten lassen und wieder in die Gemeinschaft aufnehmen, ist körperlich so bedrängend wie akustisch betörend. Es ist eine bekannte Figur aus dem Schleefschen Kanon und doch in ihrer Präzision und Disziplin immer wieder erstaunlich. Und wirksam in der Analogie von Thema und Form: dass die das machen, sich so in den Dienst zu stellen!

Dann sitzt Jutta Hofmann, nur mit einem weißen Leintuch bekleidet, als Rosa Luxemburg in der Gefängniszelle auf dem Rand einer Badewanne im sonst immer noch konsequent leeren Bühnenhalbrund. Gefangene Intelligenz, Kritik an der deutschen Intelligenz, Verzweiflung und „große Hysterie“. Jutta Hoffmann spricht traumverloren und kultiviert eine Naivität, die ihre Rosa zur weisen Närrin stilisiert. Ein Frauenchor stürmt heran mit den letzten Sätzen Gretchens aus dem „Faust“, als sie im Kerker sitzt und einverstanden ist mit dem Verlorensein. Und immer wieder der Männerchor. Und der Frauenchor. Angedeutete Kopulation. Und alle gemeinsam mit den Sängern, sich auf die Bühne ergießend, pazifistisches, sozialistisches Liedgut schmetternd, dann wieder nach hinten stürzend und in der winzigen Türe schwunghaft verschwindend wie Wasser im Abfluss. Formal hat das eine große Klarheit.

Eine rote Fahne fällt vom Himmel auf die bisher strikt schwarz-weiße Bühne, und Rosa zieht sich Helm und Brustschild über. Als deutsche Johanna mit einem nackten und einem bestiefelten Fuß posiert sie auf rotierender Drehbühne, während der Männerchor in lächerlich großen roten Sportkostümen ebenfalls Fahnen trägt und im Kreis hastet. Ganz weit oben fassen sie die Fahnen an, wie ein Kind etwas, das ihm eigentlich zu schwer ist. Dann heben sie Rosa empor und singen „Ich bin auf einem russischen Acker erfroren.“

In den Posen des Pathetischen funkt Schleef tückisch ironische, defätistische Botschaften von der Bühne und triebe in der Pervertierung von Form und Inhalt an die weiland Soz-Art heran, wenn es ihm mit dem Erhabenen nicht letztlich doch ernst wäre. Die Posen sind nicht nur Zitate, sie sind auch Krücken. Denn der Stoff selbst erweist sich letztlich als nur schwer begehbar. Die Novemberrevolution steht plötzlich auf der Szene, Metallarbeiter tanzen, Rosa und Karl diskutieren. „Schulfunk“ schrieb irgendjemand schon darüber, und es stimmt. Schleef habe keine eigene Position zum Stoff entwickelt, hieß es woanders, und das ist Unsinn. Was für eine eigene Position soll einer zum verlorenen Krieg und zum Scheitern der sozialistischen Revolution in Deutschland denn haben? Ja, aber. Warum dann es referieren?

Gemeint ist: Es ist immer wieder auch mühsam. Zumal Schleef anders etwa als in Jelineks „Sportstück“ an Burgtheater seine Mittel konzertant einsetzt. Ganz ohne die Bilderwucht, die ihm vielleicht verlogen erschien, ihm hier vielleicht auch einfach nicht gegeben war. So jedoch vollzieht sich „Verratenes Volk“ wie eine böse Prozession und zieht wieder und wieder vorbei und kann nicht enden, und wie auch, bedeutet sie dem Künstler doch das Leben. Es ist nicht nur das Totalitäre, das Einar Schleefs Ästhetik so angreifbar macht. Es ist wohl auch die Privatheit, die sich darin verbirgt. Zum Premierenapplaus hielt sich der Autor im Hintergrund. Das müde Publikum patschte in unklarer Absicht weiter in die Hände. Schleef antwortete mit einer kurzen Zugabe des Chores.