Geschichte ohne Happy End

Die neuen Utopien (1): Klar, sich eine Vorstellung von einer besseren Welt zu machen, ist out. Trotzdem bleibt das Problem der Realpolitik weiterhin, dass sie einer normativen Messlatte bedarf

Sehnsucht entsteht nicht aus individuellem Streben nach Wohlergehen

von CHRISTIAN SEMLER

„Ins Gelingen verliebt!“ – woher nur hatten die Texter von Gerhard Schröders Wahlkampagne 1998 diesen seltsamen Slogan entlehnt, der damals ein Großporträt des Kanzlerkandidaten untertitelte? Richtig geraten! Münteferings Mannen bedienten sich aus dem Steinbruch von Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“. Je mehr die Vorstellung einer besseren Welt unserem Bewusstsein zu entschwinden scheint, desto freigiebiger der rhetorische Gebrauch, den alle politischen Lager von diesem Prinzip machen.

Das hat Bloch, der große Lehrer der „docta spes“, der belehrten Hoffnung, nicht verdient. Er war der Agit-Propagandist des Glücks. In seinem philosophischen Hauptwerk wollte er die Utopie ins Reich des Menschenmöglichen heimholen. Und bei dieser Herkulesarbeit hämmerte er sich die philosophischen Slogans zurecht, die jetzt herrenlos herumliegen – bereit zur Selbstbedienung. Noch Roland Koch wird nicht zögern, für seine „Aufklärungsarbeit“ in Sachen CDU-Spendenaffäre für sich den „aufrechten Gang“ zu reklamieren. Und das „Prinzip Hoffnung“, es wird ihm weiter beistehen.

Etwas größere Schwierigkeiten bereitet das Recycling einer schwierigen, aber umso verführerischeren Propagandalosung aus der Blochschen Wunschfabrik: der der „konkreten Utopie“. Vermittels dieser zentralen Kategorie wollte Bloch nicht nur die ausgemalten Wunschlandschaften der klassischen Utopisten, sondern mehr noch das in jedem Menschen bohrende Verlangen nach Glück, nach Versöhnung, nach dem „höchsten Gut“ mit dem realen Gang der Geschichte verkoppeln.

Als aber die Nagelprobe auf ihn zukam, als er das Utopische in der real existierenden, der revolutionären, Staat gewordenen Arbeiterbewegung aufheben musste, geriet alles zur platten Apologie. Zwischen konkreter Utopie und sozialistischem Aufbau wird einfach ein Gleichheitszeichen gesetzt. Marx hat, so Bloch, die Utopie auf die Beine gestellt, ihr zu Landkarte und Kompass verholfen. Mit diesen Wegweisern ließe sich sicher ins Reich der Freiheit navigieren. In den drei Bänden des „Prinzips Hoffnung“ findet sich kein Hinweis auf die Rechnung, die Georg Orwell mit seinem „1984“ den real gewordenen Utopien aufmachte.

Orwell konnte die Revolutionäre des Jahres 1968 nicht schrecken. Angesichts der Realität des realen, sprich sowjetisch geprägten Sozialismus lancierten sie die Idee, der Sozialismus müsse, nachdem er sich von der Utopie zur Wissenschaft entwickelt habe, wieder zur Utopie zurückkehren – um dann, in einer weltergreifenden revolutionären Bewegung ins Leben gerufen zu werden. Die 68er wussten zwar genau, was „Ungleichzeitigkeit“ bedeutet. Aber ihr Verlangen ging auf das Alles und Jetzt. Sie hielten die Welt reif für die Aufhebung der „drei großen Teilungen“: zwischen Kopf- und Handarbeit, zwischen Stadt und Land, zwischen den Geschlechtern. Sie verwarfen Blochs Demutsadresse an den realen Sozialismus, aber in ihren Allmachtsphantasien, in dem, was Menschen möglich sein könnte, blieben sie Blochs Kinder.

Erste Frage: Was war die Ursache dieses großen Utopieschubs, der sich noch ein Jahrzehnt lang nährte von der Ökologiebewegung und vom Feminismus, wo er in Marge Piercys „Die Frau am Abgrund der Zeit“ eine letzte schaurig-schöne Gestalt fand? Und die zweite Frage: War’s das dann, oder zieht die Zeit ein weiteres Mal den Vorhang hoch und wir sehen tagträumend „Verweile doch!“ – das kollektive Glück?

Die erste Frage ist leicht beantwortet. Die Lockerung der Blockkonfrontation erlöste die Linken vor der erdrückenden Alternative „Entweder Realsozialismus oder Kapitalismus“. Diese „neue Linke“, die in den entwickelten Industrieländern gleichzeitig entlastet war von Not und dem Zwang zum raschen Gelderwerb, sie griff, mit den Worten Blochs, auf das „Unabgegoltene“ der sozialistischen Tradition zurück, auf das, was sie als ihre humane Substanz ansah. Das war das Nächstliegende, es lag auf der Straße. Den Kapitalismus aber sahen die Linken in seiner global Menschen vernichtenden Wirksamkeit. Und, wiederum ganz im Sinne Blochs, bar jeder Idee, am So-Sein klebend, auf ebenso billige wie selbsttäuschende Weise realitätstüchtig auf dem Weg in die nächste Katastrophe.

Für unsere Zwecke ist es nicht nötig, die Abwege und Sackgassen zu schildern, in die sich im Laufe eines Jahrzehnts dieser utopische Impuls verirrte. Er war schon hinreichend mit dem Kopf gegen die Wand gerannt, als der Völkerfrühling 1989 ihm eine neue Chance einräumte. Aber statt den erträumten „Dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Realsozialismus einzuschlagen, bestanden die Protagonisten der samtenen Revolutionen darauf, bestenfalls einen Kapitalismus mit menschlichem Gesicht einzuführen.

Und auch die große Friedensutopie des Jahres 1990, Auflösung der Militärblöcke, die Vereinten Nationen als Garantiemacht für Frieden und Entwicklung, erwies sich binnen zweier Jahre als Schimäre. Kaum hatte sich der Horizont geöffnet, war er schon wieder verdunkelt. Also, nolens volens, Realpolitik.

Was nie erreichbar sein wird, ist die große Harmonie, das Reich der Freiheit

Aber das Problem der Realpolitik besteht darin, dass sie einer normativen Messlatte bedarf. Es geht um Ziele, für die sich der Einsatz lohnt. Die sind, da hatte Bloch Recht, aus den Potenzen der Wirklichkeit zu schöpfen – aus dem angesichts der Entwicklung der Produktivkräfte real Erreichbaren. Sie sind Kristallisationskerne der Hoffnung, Einfallstore für ein Glück, von dem man weiß, dass es nur strahlt, wenn man es mit anderen teilt.

Die Hoffnung auf individuelles Wohlergehen ist deshalb nie und nimmer der Stoff, aus dem die Sehnsucht kommt. Dies zu glauben ist der Grundirrtum derer, die mit dem Börsengang das Glück für jedermann verkünden. Dazu Ernst Bloch: „Doch für den kleinen Mann gibt es keinen Börsengewinn des Lebens, jedes Rosenrot endet für ihn als Schwarzer Freitag.“

Wie Richard Sennett gezeigt hat, ist es aber gerade auch der Mittelbau der „New Economy“, der angesichts der Diskontinuität des Arbeitsprozesses Verunsicherung, Verlust der Lebensperspektive und Isolation erleidet. Wie sehr auch der Individualismus verinnerlicht ist: Hier könnte die Vergeblichkeit individueller Glücksjagd wieder den Raum öffnen für die Vorstellung gemeinsamen Glücks.

Was nie erreichbar sein wird, ist die große Harmonie, nach der auch Ernst Bloch strebte, sein Reich der Freiheit. Utopisches Denken, das sich Rechenschaft abgibt über die verheerenden Versuche dieses Jahrhunderts, dieses Reich zu verwirklichen, wird den großen Entwurf vermeiden, wird sich dem Experiment, der Offenheit, dem Risiko des Fehlschlags aussetzen. Kein stillgelegtes Glück, sondern eine Verhandlung, bei der das gewünschte „Neue“ nicht nur mit dem für schlecht befundenen „Alten“, sondern auch mit sich selbst im Streit liegt. Mit hoffenden Skeptikern als Richter.