Schwarzer Atlantik

Geschmack und Edutainment, Chicano Power und 300 Prozent Dynamit: Die Betreiber des Londoner Soul-Jazz-Labels und -Plattenladens legen heute Nacht im Roten Salon auf

Soul-Jazz-Plattenhändler mit Anspruch auf Vollständigkeit sind heutzutage mehr denn je eine wenig zu beneidende Spezies. Jeder neue Retrostil-Hybrid gebiert gleich eine ganze Palette neuer alter und vor allem essenzieller Wiederveröffentlichungen. Der Re-Issue-Wildwuchs kennt keine Grenzen und nur noch eingeschränkten Über- und Durchblick. Zwischen all den lieblos zusammengeschusterten Mid-Price-Wiederveröffentlichungen mit hässlichen Standard-Covern und überteuerten Complete Recordings finden sich aber immer wieder vernünftige Veröffentlichungen, bei denen man auf den ersten Blick erkennt, dass da jemand mit viel Liebe und Sachverstand bisher brachliegende Genres umgegraben hat. Oft genug stand in den letzten Jahren der Name des Londoner Labels Soul Jazz auf dem Plattencover.

Seit 1992 befindet sich das Plattenladen-Label-Konglomerat mitten im Herzen des Londoner Second-Hand-Wonderland Soho, dem wahrscheinlich einzigen Ort auf der Welt, wo die Chance, eines der raren Originale der Soul-Jazz-Rereleases zu ergattern, zumindest bei Fifty-Fifty steht.

Von hier aus lenkt Stuart Baker die Geschicke eines der momentan interessantesten Repertoire-Labels, das sich – grob von den Koordinaten „Soul“ und „Jazz“ ausgehend – um alle erdenklichen musikalischen Spielarten entlang einer spezifischen geografischen, soziologischen und kulturellen Achse kümmert. Mit Soul Jazz (und dem Sublabel Universal Sound) erforschen Baker und sein neunköpfiges Team musikalische Phänomene, die der Mainstream einfach absorbiert hat. Projekte wie die „Chicano Power“-Compilation (eine erstmalige Bestandsaufnahme der 68er-East-L.A.-Chicano-Rock-Szene um Carlos Santana), „Barrio Nuevo“ (die Einflüsse von Latin, Funk, Jazz und Soul auf die New Yorker Disco-Bewegung der späten 70er) oder „Universal Sound of America“ (ein Überblick über die radikale schwarze Jazz-Szene Mitte der 70er) waren mehr als hervorragend zusammengestellte Sampler; die Veröffentlichungen funktionierten zugleich als ambitionierte Dokumentationen einer musikalischen Ära unter Berücksichtigung der verschiedenen sozialen und kulturellen Implikationen, denen Musiker ethnischer Minderheiten nicht nur in den USA immer ausgesetzt waren/sind.

Die umfangreichen Booklets liefern den historischen Background zu einigen der besten Sounds der Welt. Besonderes Interesse gilt den Machern auch der gegenseitigen Befruchtung verschiedenster Musikstile in einem kulturellen Exil: z. B. brasilianische Mambo-Bands mit Afro-Jazz-und US-Funk-Einflüssen oder amerikanische Soulcombos mit Afro-und Latinwurzeln. Seinen bisher größten Erfolg feierte Soul Jazz mit den drei „Dynamite“-Compilations, die die Spuren von Soul, Funk, Jazz und R’n’B in der Musikgeschichte Jamaikas aufnehmen.

Das Gesamtwerk von Stuart Baker & Co verfolgt damit einen Ansatz, den der britische Soziologe Paul Gilroy unter dem Schlagwort „Black Atlantic“ zusammenfasste: quer durch die Kontinente nach einer gemeinsamen Historie und Spurenelementen gemeinsamer kultureller Praktiken eines in die Diaspora vertriebenen Volkes zu suchen.

Dass dieser Zustand von Edutainment auch extrem tanzbar und und unterhaltend ist, beweist das Soul-Jazz-Soundsystem heute nacht im Roten Salon.

ANDREAS BUSCHE

Ab 1 Uhr, Roter Salon der Volksbühne, Rosa-Luxenburg-Platz