clintons karlspreis-rede
: Visionäres Europa

Eigentlich hatte es für die Europäer in den letzten Wochen ganz gut ausgesehen: Zuerst hielt der deutsche Außenminister seine richtungweisende Rede über ein „Gravitationszentrum“, mit dessen Hilfe man die Osterweiterung in den Griff bekommen will. Wenig später deutete sich eine erste deutsch-französische Übereinkunft über die Reform der EU an. Und auch wirtschaftlich konnte man zufrieden sein: Bei der New-Economy-Branche Telekommunikation hatte man inzwischen sogar die USA hinter sich gelassen. Eine Union mit bis zu 29 Mitgliedern, von den baltischen Staaten bis zur Türkei, mit einem wirtschaftlich boomenden Kern: eine schöne Vision.

Und nun kommt der US-Präsident nach Europa, um eben diesen Europäern zu sagen, dass sie bei ihrer Vision einen Teil Europas außen vor gelassen haben: Russland. Weder zur EU noch zur Nato dürfe die Tür geschlossen werden, und selbst wenn Moskau diese Chance nicht wahrnehmen wolle, müssten die Grenzen nach Osteuropa durchlässig sein.

Kommentarvon SABINE HERRE

Deutliche Worte, die den Planspielern im Auswärtigen Amt zu schaffen machen werden. Hatten sie sich doch schon mehr oder weniger darauf verständigt, eine neue Grenze durch Europa zu ziehen. Westlich der Ukraine sollte sie verlaufen. Moskau sollte nicht durch die etwaige Aufnahme des direkten Nachbarn gereizt werden. Vorauseilender Gehorsam gegenüber einer einstigen Supermacht, deren tatsächliche Macht man noch immer nicht einzuschätzen weiß. Und von der man sich in der wirtschaftlichen Aufholjagd mit den USA nicht behindern lassen will.

Dabei zeigt sich Russland durchaus gesprächsbereit. Wladimir Putin, der neue Präsident, ist damit beschäftigt, seine Herrschaft nach innen abzusichern, da sucht er Ruhe in der Außenpolitik. Hierzu passt Putins gestriges Angebot an die USA, gemeinsam das Raktenabwehrsystem NMD zu entwickeln. Schließlich haben beide Weltmächte ein gemeinsames Ziel: die Bekämpfung des „internationalen Terrorismus“, wozu nach Moskauer Lesart natürlich auch Tschetschenien zählt.

Für Russland einen Weg nach Europa zu finden ist jedoch nicht die Aufgabe der USA, sondern die der Europäer. „Die lahme Ente hat leicht reden“, wird daher so mancher gestern gedacht haben. Und auch: Wenn sich Clinton so stark macht für Russland, warum bietet die Führungsmacht der Allianz diese Mitgliedschaft nicht direkt an? Doch ein Präsident darf am Ende seiner Amtszeit auch einmal träumen. Für Clinton ist Europa eine „Idee“, kein geografischer Ort. Und was ist es für Joschka Fischer?