Bei Dingfamilien zu Besuch

Skulptur als Feldforschung: Haim Steinbach zeigt im Neuen Berliner Kunstverein mit „North East South West“ eine Sammlung aus privatem Nippes. Zwischen Videos und inszenierten Baugerüsten werden Glaskatzen, leere Schnapsflaschen oder Mitbringsel aus Rumänien zur Alltagsarchäologie
von KATRIN BETTINA MÜLLER

Das Inventar der Kultur neu zu lesen und die alten Ordnungsmuster des Sammelns nach einem bisher verborgenen Sinn zu befragen, hat Künstler und Wissenschaftler gegen Ende des letzten Jahrhunderts in verstärktem Maße beschäftigt. Zu denen, die die vergessenen Winkel des kulturellen Gedächtnisses neu ausleuchten, gehört seit bald 20 Jahren auch der amerikanische Künstler Haim Steinbach. Da passt es gut, dass seine erste Einzelausstellung in Deutschland parallel zum Millenniumsprojekt „Sieben Hügel“ in Berlin stattfindet. Während die Kuratoren der „Sieben Hügel“ in Museen, Bibliotheken und Forschungslabors unterwegs waren, um schließlich mit hundert Medieninstallationen und 2.000 Objekten den Wissensstand der Zeit noch einmal wie in den Kunst- und Wunderkammern der Renaissance zusammenzufassen, hat Steinbach in Berliner Wohnzimmern im Osten und Westen der Stadt recherchiert. Die Stillleben, die er dort auf Fensterbänken und Schränken fand, taugen nicht weniger für eine kleine Weltausstellung als die Highlights der großen Sammlungen.

Unter dem global angelegten Titel „North East South West“ stellt Heimbach die privaten Leihgaben im Neuen Berliner Kunstverein vor. Sie werden über Video von ihren Benutzern kommentiert, und plötzlich erscheint die Welt erklärbar und bis in die kleinsten Krümel mit Sinn erfüllt. Da gibt es zum Beispiel die weißen Porzellankatzen, hoch oben auf dem Schrank in Sicherheit gebracht vor den Pfoten ihrer lebenden Artgenossen. Zwischen ihnen steht eine Uhr unter einem Glassturz. Das habe nichts zu bedeuten, hört man auf dem Monitor im Off die Stimme der Besuchten, und „Vorsicht! Nicht auf das Katzenkissen setzen“. Irgendwann stellt sich mit der Beredsamkeit der Dinge auch im Interview ein Zusammenhang her: Die Uhr zeige an, „dass mir die Zeit davonrennt“, und die Katzen meinen, „dass ich alle Zeit der Welt habe“. Ein Geschäftsmann wiederum folgt in seinen Erwerbungen von Aschenbechern, Feuerzeugen, Lochern und Lupen der Suche nach der „guten Form“ und entdeckt fast immer erst im Nachhinein die nützliche Anwendbarkeit der Dinge.

Die meisten Gegenstände aber, die die Aufmerksamkeit Steinbachs erregt haben, sind dem Gebrauch entzogen. Ihr Symbolgehalt wächst mit der Entfernung vom Funktionalen. Die Mitbringsel aus Rumänien und der UdSSR, Fossiliensammlungen und leere Schnapsflaschen, erweisen sich als heimliche Verbündete in der Suche nach dem eigenen Selbstverständnis. Die Rede über ihre Herkunft reicht rund um die Welt und zurück bis Adam und Eva.

Als Modell für die Fokussierung auf die Welt im Kleinen steht ein Puppenhaus in der Ausstellung. Vor der Anmutung des Niedlichen und des Sozial-Tourismus aber bewahrt das Projekt das unregelmäßig durch die Räume mäandernde Baugerüst, auf dem Steinbach die privaten Sammlungen präsentiert. Die Dinge begegnen sich auf Glasplatten, die in der anonymen Struktur des Gerüsts wie Inseln des Individuellen treiben.

So verbindet Steinbach die Abgeschlossenheit des privaten Deutungszusammenhangs mit einer offenen und durchlässigen Konstruktion. Denn er ist nicht nur als Feldforscher unterwegs, der aus den Souvenirs die Sehnsüchte und aus den symmetrischen Anordnungen die Tradierung ästhetischer Maßstäbe herausliest. Hinter seiner Neugierde für die Sprache der Dinge verbirgt sich das Anliegen eines Bildhauers, der mit seinen Skulpturen Brücken zwischen Leben und Kunst schlägt. Er bricht die Hermetik der abstrakten Skulpturen auf, in dem er sie als Lesehilfe für das Strandgut des Alltags zur Verfügung stellt. Die Schränke, Sockel, Konsolen und Regale, die er seit Anfang der 80er-Jahre für exotische und gewöhnliche Dingfamilien baut, reagieren nicht nur auf die Form der gefundenen und entliehenen Sammlungen, sondern spielen auch auf den Gestus des Vorzeigens an.

Steinbach, der von deutschen Eltern abstammt und 1944 in Israel geboren wurde, thematisierte bisher fast nie die eigene Biografie. Auch in „North East South West“ bleibt er selbst unsichtbar wie der ethnografische Dokumentarfilmer hinter der Kamera. Dennoch hat die Recherche über die Zeichen des Zuhauseseins in dem Land, das seine Eltern einst verlassen haben, etwas von der vorsichtigen Erkundung eines Sprach- und Kulturraums, dem man sich nicht ohne Schutz und Vorsichtsmaßnahmen anvertrauen will. Was er aufspürt, reicht tief in die Geschichte von Normen, Klischees, die Muster der individuellen Abgrenzung und sozialen Zuordnung hinein. Der Umgang damit aber ist so von Zuhören und Vertrauen geprägt, dass die Gräben überwunden werden.

Bis 25.6., Neuer Berliner Kunstverein

Hinweis:Plötzlich erscheint die Welt erklärbar und bis in die kleinsten Krümel mit Sinn erfüllt