Beton und Zucker

Gesundheitstag diskutiert die Krise der Stadt, die Armut des Südens und die Entgiftung durch Bauchnabeldiagnose

BERLIN taz ■ Entwickeln sich die Metropolen zurück ins 19. Jahrhundert? Erleben wir die Auferstehung alter Elendsquartiere? Mit beängstigender Geschwindigkeit beschleunige sich die „Entmischung“ in den Problembezirken der Metropolen. Gute Verdiener und junge Familien mit Kindern flüchten. Beispiel Berlin: Wedding, Kreuzberg, Teile von Tiergarten und Neukölln würden zu instabilen Brennpunkten. Die ersten, ausschließlich mit Ausländerkindern besetzten Schulklassen seien Realität. Der Anteil von Arbeitslosen und Empfängern von Sozialhilfe wachse ständig. Und die Krankheits- und Sterbeziffer steigt.

Die „Krise der sozialen Stadt“ war einer der Schwerpunkte des Gesundheitstags. Die Veranstalter wollen sich nicht in das enge Kästchen alter Gesundheitsbegriffe einsperren lassen. So standen neben klassischen Gesundheitsthemen auch ökologische und soziale Fragen auf der Tagesordnung: Migration, Umwelt, Krise der Metropole.

Der Berliner Stadtentwicklungsexperte Hartmut Häußermann sieht in der wachsenden sozialen Ungleichheit die Wiederkehr eines aus dem 19. Jahrhundert bekannten Problems. Aber unter neuen Vorzeichen: „Heute geht es um die Ausgrenzung aus einer Gesellschaft, die ein beachtliches Integrationsniveau erreicht hatte.“ Und während sich früher Arme und Entrechtete damit trösteten, der marxistisch geweihten Arbeiterklasse anzugehören, fehle ihnen heute jede Perspektive. Ein anderer Unterschied: Die Wohnquartiere selbst seien oft in gutem Zustand. Häußermann: „Wir haben gute Wohnungen und dennoch große Sozialprobleme, man kann Menschen eben nicht mit Beton helfen.“

Die wachsende Ungleichheit werde begleitet vom Rückzug des Staates. Öffentliche Ressourcen schrumpften, die Wohnungsversorgung werde privatisiert. Einige Diskutanten sehen in den Problemquartieren wieder mehr Aktivität und Engagement, andere warten auf „die gesellschaftliche Durchdringung des Problems“.

Hoffnungsschimmer blitzten in den Workshops zur weltweiten Pharmapolitik auf. Hedwig Diekwisch und Jörg Schaaber von der Buko-Pharma-Kampagne berichteten über die im Dezember in Bangladesch geplante „1. Weltgesundheitsversammlung von unten“. Von den Ländern des Südens initiiert, wolle sie „Mut machen“ und „Aktivitäten bündeln“. Der freundlichen Idee stehen deprimierende Fakten gegenüber: Die Schere zwischen Arm und Reich ist noch größer geworden: Das ärmste und das wohlhabendste Fünftel der Weltbevölkerung hatten 1960 eine Einkommensrelation von 1:30. Im Jahre 1980 waren es 1:60. Der neue „Human Developement Report“ nennt jetzt die Ziffer 1:70! Drei Milliarden Menschen haben keine Abwasserversorgung, 1,1 Milliarden kein sauberes Trinkwasser.

Das Postulat der WHO, Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000, sei gescheitert. Vor allem die Kinder des Südens, erklärt Diekwisch, stürben an leicht heilbaren Krankheiten: 2,1 Millionen jährlich an Lungenentzündungen, 2 Millionen an Durchfall, 1,1 Millionen an Masern. Und die deutsche Pharmaindustrie – weltweit größter Exporteur – verkaufe derweil Medikamente an die Armen, die „zu 42 Prozent irrational“ seien.

Seriöse Aufklärung, engagierte Workshops, aber auch abgedrehte Geheimwissenschaft gehören zum Gesundheitstag. Und die aggressive Ablehnung der Schulmedizin.

Da knallen Türen, weil Wollsocken tragende Teilnehmer die moribunde Wirkung des Weißzuckers nicht ausreichend gewürdigt sehen. Da wird Schwerkranken geraten, Allergien und chemische Vergiftungen per Akupressur auszuklopfen und „alles zu vergessen, was die Ärzte sagen“. Krank machende Chemie sei durch kräftiges Anpressen der Substanz dicht unterm Bauchnabel zu überführen, wenn man gleichzeitig eine Flasche Wasser am ausgestreckten Arm hält. Erlahmt der Arm schnell, ist der Störenfried entdeckt. Wenn nicht, ist er gutartig.

MANFRED KRIENER