intershop: WLADIMIR KAMINER über Clowns
Die Macht des Entertainments in Zeiten der totalen Unterhaltung
Die Schönhauser Arkaden, die neue Shoppingmall in Berlin-Prenzlauer Berg, feierten ihren ersten Geburtstag – ein totales Unterhaltungsprogramm rund um die Öffnungszeiten wurde angeboten.
Überall lief Musik und blühten tropische Pflanzen, die völlig echt aussahen. Ein ermüdeter Clown mit einem Haufen Luftballons versuchte den Kindern zu erklären, dass er eigentlich schon seit zwei Stunden Feierabend hätte. Die Kinder umzingelten ihn und ließen ihn nicht gehen. Selbst nach Arbeitsschluss bleibt ein Clown – ein Clown.
Einige Schritte weiter – kurz vorm Eingang des Kaiser’s Supermarkt – hielten zwei Frauen in Lederhosen eine große Pythonschlange hoch. Das Trio machte ebenfalls einen übermüdeten Eindruck. Es war halb acht, wer weiß, wie lange sie schon dort standen?
Die Schlange hatte ein Auge zu. Mit dem anderen schielte sie in Richtung Kaiser's und beobachtete das dort liegende und herumrennende Essen. Sie hatte auch keine Lust mehr, als Schlange in der Luft zu hängen. Noch ein wenig länger und sie würde kotzen, stand ihr ins Gesicht geschrieben. Vielleicht war das Reptil nicht einmal schwindelfrei.
Ich empfand eine gewisse Solidarität mit ihr. Wir, Entertainer von heute, sind eindeutig überfordert. Meine liebe Schlange, dachte ich, in der Zeit der totalen Unterhaltung haben wir es nicht leicht.
Obwohl immer mehr Leute aus anderen Berufsgruppen in unsere Branche wechseln und Entertainer werden – Politiker, Ärzte, Wissenschaftler und so weiter –, kann das Angebot die Nachfrage noch immer nicht decken.
Die bittere Erfahrung, dass man das Leben nicht noch besser machen kann als es ist, hat die Menschheit in eine ziemliche Sackgasse gebracht. Allen Berufsgruppen, die an der Weltverbesserung arbeiten, droht die Arbeitslosigkeit.
Nur die totale Unterhaltung zeigt den Weg raus – man kann es nicht schöner machen, aber dafür spannender, bunter und lauter.
Unterhaltsamer eben: Das ganze Leben in eine Talkshow verwandeln – nur auf diese Weise kann man die Reste von Menschlichkeit und den guten Willen zur allgemeinen Verbesserung der Lage aufrechterhalten.
In Moskau, wo ich herkomme, wird die totale Unterhaltung derzeit noch heftiger betrieben als hier. Das Dollardenkmal am Puschkinplatz ist so ein Zeichen der neuen Zeit. Es steht vorm ehemals größten Filmtheater „Russland“ – dem nun größten Spielkasino der Stadt: eine drei Meter hohe Plastik aus fünf aufeinander gestapelten DollarBündeln, die merkwürdigerweise von innen beleuchtet sind.
Auf dreizehn Fernsehkanälen laufen ununterbrochen Talkshows und Reality-Soaps. Es wird überall gedreht – in Restaurants, in der Psychiatrie, im Knast.
Oder zum Beispiel in einem Krankenhaus, in dem eine Frau gleich gebären wird – die Zuschauer können wetten, was es wird: ein Mädchen oder ein Junge?
Meine Lieblingssendung heißt: „Aus ganzem Herzen“ – eine russische Variante von „Vera am Mittag“. „Vermissen Sie jemanden, Frau Petrova?“, fragt die Moderatorin eine alte, etwas verklemmte Frau.
„Eigentlich nicht“, antwortet Frau Petrova.
„Aber Sie haben doch 1968 abgetrieben. Stimmt es? Doch doch, Frau Petrova, verziehen Sie ihr Gesicht nicht so, ihr Sohn lebt und befindet sich heute in unserem Studio. Begrüßen Sie mit uns Alexej!“
Eine andere Sendung: „Wenn die Massenmörder singen“, ist auch nicht übel. Aus einer Zelle für besonders schwere Verbrecher wird täglich berichtet, wie es den Inhaftierten geht. Am Schluss darf ein Serienmörder sein Lieblingslied vor der Kamera singen. Ich weiß nun, dass manche Serienmörder besser singen können als viele Liedermacher.
Doch wir alle müssen noch viel lernen, um der Zeit der totalen Unterhaltung gewachsen zu sein. „Lernen, lernen und lernen“, wie Lenin einmal sagte.
Und das betrifft alle Entertainer ohne Ausnahme – die Schlange, den Clown, den Bundespräsidenten, den Serienmörder, dich und mich. Wir müssen uns noch viel mehr einfallen lassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen