Unsentimentale Erziehung

Ein Leben lang Wodka: Der Schweizer Journalist Ulrich Schmid hat mit „Der Zar von Brooklyn“ einen Roman über russische Befindlichkeiten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschrieben

von GERRIT BARTELS

Der Schweizer Ulrich Schmid ist mit seinem Roman „Der Zar von Brooklyn“ ein Risiko eingegangen. Schmid ist von Haus aus Journalist und war von 1990 bis 1995 Russland-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in Moskau, danach dann bis 1999 USA-Korrespondent für dieselbe Zeitung in Washington, wo ihm die Idee zu seinem Roman kam. Schmid hat sich nun für sein Buch einen Ich-Erzähler ausgesucht: den jungen Moskauer Journalisten Sascha, den er in Form eines langen Schreibens an einen Herrn namens Iwan Andrejewitsch eine Geschichte erzählen lässt, die in Moskau, New York und wieder in Moskau spielt. Eine Geschichte über Russen in Amerika, vor allem aber über russische Befindlichkeiten und Besonderheiten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Ist man zumeist sowieso ziemlich skeptisch, wenn Journalisten meinen, sie müssten Romane schreiben, verstärkt sich diese Skepsis, wenn nun ein Schweizer Journalist versucht, quasi einen russischen Roman zu schreiben. Da kann einer schon mal leicht ins Straucheln kommen, gar abstürzen, zumal wenn er dann die Größe Russlands noch in eine breit angelegte, über fünfhundert Seiten lange Erzählung zu übersetzen scheint. Doch Ulrich Schmid gewinnt sein Risikospiel. Man meint irgendwann gar zu glauben, dass er sein Leben lang nichts anderes als Wodka getrunken hat. Dass ihm Kultur, Mentalität und Charakter der Russen in Leib und Seele eingegangen sind und dabei vor allem der russische Realismus in der Literatur des 19. Jahrhunderts mitsamt seinen „natürlichen“, genauen, wirklichkeitsgetreuen und psychologischen Erzählern wie Dostojewski, Turgenjew oder Tolstoi.

Sein Sascha ist eine reichlich wahrhaftige und interessante Figur, genau wie die anderen Figuren des Romans, und Schmid ist ein mächtiger, ausschweifender Erzähler, der ganz nah dran ist an der Gegenwart und trotzdem schöne Fiktion schreibt.

Nach einem kryptisch-unverständlichen Prolog, der den Grundpfeiler für die literarische Konstruktion des Buches darstellt, wickelt Schmid den Leser von Beginn an ein und führt ihn geradezu sinnlich in seinen Roman ein: „Die Luft in Moskau trägt keine Gerüche wie die Luft anderer Städte. Die Moskauer Luft riecht selber, durch alle Gerüche hindurch (...). Im Frühling, wenn die Pollen der Birken und der Pappeln fliegen, ist sie am würzigsten; im Sommer, wenn es regnet und der schwarze Boden duftet, am weichsten; im Herbst, wenn die ersten Schneewolken heranziehen, am geheimnisvollsten, und im Winter, wenn sich die Fischer auf der Moskwa kleine Zelte bauen, um warm zu bleiben, am reinsten.“

Sascha hat eine sensible Nase, und „ich halte sie in den Wind wie ein Pferd, wenn mir ein Abenteuer entgegenweht“. Dieses weht ihm aus New York entgegen, wo er im Auftrag der Zeitung „Sputnik“ das Leben von russischen Emigranten erkunden und darüber ein paar Reportagen schreiben soll. Dabei lernt Sascha in Brighton Beach, Brooklyn, den todkranken Elektrohändler Gennadi Borrissowitsch Markow kennen, einen geheimnisvollen und scheinbar kleinen Geschäftsmann, der eines Abends in Gegenwart Saschas von der russischen Mafia erpresst wird. Sascha ist fasziniert von Markow, von seiner Haltung, seiner Unbeugsamkeit der Mafia gegenüber, seiner Vergangenheit. Nach Markows Selbstmord gerät er ins Visier verschiedenster Gruppierungen der neuen Mafia und des alten Geheimdienstapparats, verliert Freundin, Kind, Job und irgendwann auch den Glauben, sich im unübersichtlich gewordenen, neuen Russland noch zurechtfinden zu können.

Dieses neue Russland aber zeichnet Schmid äußerst eindringlich nach: Die Menschen, ihre Umgebung und ihre unterschiedlichen Lebensmodelle kommen in „Der Zar von Brooklyn“ kräftig rüber – so kräftig, dass Schmid darüber zuweilen vergisst, seine eigentliche Geschichte, seinen literarischen Krimi, voranzutreiben und sich in langen Dialogen und den verschiedensten Details, insbesondere natürlich aus dem Leben Saschas, verliert.

Dagegen bleibt das Leben der Russen in Brighton Beach, Brooklyn, dem „kleinen Odessa“, genauso wie das Bild von Amerika eher etwas blass. Doch auch das hat Methode, schließlich blickt Schmid mit den Augen Saschas auf Amerika, und der ist das erste Mal dort, hat bestimmte, darunter auch einige schiefe Bilder über das Land im Kopf, die im Verlauf seiner zwei Besuche nicht unbedingt gerade gerückt werden.

Amerika ist jedoch für ihn auch kein Traum, sondern durch die Geschichte mit Markow ebenfalls nur russische Realität. So entscheidet sich sein Schicksal in Russland, wo er kapituliert, und so ist seine ganze Geschichte letztendlich eine Art unsentimentale Erziehung: Saschas Erzählung, dieser 516 Seiten lange Bericht, ist ein Bewerbungsschreiben an den KGB und endet mit der Bitte um Aufnahme.

Ulrich Schmid: „Der Zar von Brooklyn“. Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2000, 516 S., geb., 49,80 DM