Der Schatten des Läufers

Keine Angst vor „nature morte“! Die Berliner Ausstellung „Sieben Hügel“ versammelt nicht bloß willkürliche Schnipsel unserer Zivilisation. Sie zeigt auch, wie die Menschheitsgeschichte qua Musealisierung in einem gewaltigen Stillleben aufgegangen ist
von KATRIN BETTINA MÜLLER

Ausgerechnet zwischen den wilden Tieren hat sich eine junge Frau niedergelassen, um ihr Kind zu stillen. Ottomane und Fußboden sind mit einem plüschigen Webpelz bedeckt. Hinter ihr ist eine indische Tigerin mitten im Sprung erstarrt, mit dem sie 1887 den Herzog von Orleans von seinem Reitelefanten reißen wollte. Den exotischen Souvenirs der Kolonialzeit gegenüber informieren Touch-Screens über aufwendige Zuchtprogramme und In-vitro-Befruchtungen der Tigerpopulation in zoologischen Gärten. Dort leben heute, so wird vermutet, mehr gestreifte Großkatzen als in freier Wildbahn. Das letzte Jahrhundert hat 95 Prozent des Bestandes den Garaus gemacht .

Tiger sind alte Stammgäste im Programm von Weltausstellungen. In der Abteilung „Dschungel“ zur Ausstellung „Sieben Hügel“, die von Berlin aus das Unternehmen Weltausstellung in Hannover kommentiert, ist im Raum der Tiger der Abgesang auf die Vorstellung, das Leben durch Wissenschaft und Technik immer besser zu beherrschen, am lautesten zu hören. Keinen Zweifel lässt der Gegensatz zwischen dem alten Mythos von der Wildheit und sexuellen Potenz der Tiger und den klinischen Geräten, die heute zu ihrer Fortpflanzung eingesetzt werden, am Ersatz der Natur durch künstliche Stellvertreter.

Zoologische Gärten teilen mit den archäologischen und ethnologischen Sammlungen der Museen eine Entstehungsgeschichte, die in die Zeit der kolonialen Eroberungszüge Europas zurückreicht. Sie belegten die Vorstellung der Enzyklopädisten, dem Verständnis der Welt durch ihre vollständige Erfassung immer näher zu kommen, und sie gaben der Idee Anschauungsmaterial. Als Kehrseite dieser Bildungsinstitutionen entstanden die Weltausstellungen, die das Bild der erforschten Welt in ihren Waren vorstellte und das gesammelte Wissen in einen Marktwert ummünzte.

Mit diesem Verhältnis zwischen der musealen Erfassung und der kolonialen Ausbeutung umzugehen, fällt den bildungsbürgerlichen Institutionen bis heute schwer. Die Ausstellung „Sieben Hügel“ dagegen durchbricht in einigen ihrer Kapitel wie „Dschungel“, „Wissen“ und „Zivilisation“ die tradierten Kategorien der Wissenschaften und befragt ihre Ordnungsmuster nach ihren unbewussten Mitteilungen.

So werden die Muster der Musealisierung selbst zum Gegenstand der Ausstellung, die mehr von den Fiktionen der Wissenschaftsgeschichte als von ihren Zukunftsvisionen zu erzählen weiß. Wer aus dem „Weltraum“ mit seinen angestaubten Comicversionen von Spacehotels, außerirdischen Lebensformen und propellergetriebenen Menschen kommt, für den beginnt der „Dschungel“ mit der „Natur in der Schublade“. In Vitrinen mit Vogeleiern und blau glänzenden Schmetterlingen, in Büchern mit gepressten Pflanzen und in Gläsern mit eingelegten Seetieren wird der Wunsch, das Geheimnis des Lebendigen zu entschlüsseln, ebenso greifbar wie seine Vergeblichkeit. Die systematischen Ordnungen des Museums für Naturkunde erscheinen heute als ästhetisches Muster eines unendlichen Stilllebens, das mit toten Dingen vom Lebendigen erzählen will. Dem gegenüber steht der neue Sammlungstyp der Genbank, der die Fiktion der vollständigen Erfassbarkeit auf einer neueren Stufe der Technologie wiederholt. Dabei teilen beide Sammlungskonzepte eine Ahnung: immer nur einen Bruchteil der Arten zu kennen und den Abbau ihrer Vielfalt nicht aufhalten zu können.

Der Wechsel zwischen den alten und den neuen Repräsentationsformen des Wissens zieht sich wie ein roter Faden durch die „Sieben Hügel“: In der Abteilung „Zivilisation“ stehen in einem mit scharfkantigen Stahlträgern verbarrikadierten Kabinett alte kriminologische Techniken der Täteridentifikation – wie Porträtfotografie, Körper- und Schädelvermessung – der neuen DNA-Analyse gegenüber. Im Saal der Bibliotheken, den die steinerne Göttin Athene aus Pergamon überwacht, liegen in gläsernen Türmen Speichermedien aus den unterschiedlichen Epochen: Tontafeln mit Keilschrift, Gemmensammlungen, Palimpseste auf Pergament, Schriftrollen, Bücher, Mikrochips und zuckerwürfelgroße Speicherkristalle, die mit Laser beschrieben werden. Immer ist dieser Weg einer in die Immaterialität und Virtualität. Und gerade das erhöht den sinnlichen Reiz des alten Anschauungsmaterials.

Das Anwachsen der Musealisierung beschreibt der Kunsthistoriker Horst Bredekamp im Katalogband „Wissen“ als unumkehrbare Entwicklung: „Das zwanzigste Jahrhundert hat die Feindschaft auf alles Museale gepredigt und eine beispiellose Musealisierung bewirkt. (...) Sie ist der unablösbare Schatten, der dem Läufer umso schneller folgt, je geschwinder er sich bewegt – und der ihm vorauseilt, wenn die Lichtquelle im Rücken steht.“ Auch der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler sieht diesen Hunger nach Vergangenheit als einen Effekt der Modernisierung: „Der babylonische Turm aus Hardware und Software wächst und wächst, bis digitale Medien alle anderen integriert haben werden. (...) Die Digitalisierung schafft mithin einen Bedarf, den sie nicht selber stillen kann. Content Providing, dieser Schlachtruf gegenwärtiger Kulturbeutezüge, plündert die Schatzhäuser altehrwürdiger Künste und Medien, ganz wie einst Bonapartes Italienarmee den neu gegründeten Louvre mit Gemälden und Statuen bestückte.“ Von diesen Beutezügen der Gegenwart durch die Geschichte erzählt die Ausstellung mehr als von neuen Utopien. Sie beschreibt nicht die Zukunft, sondern das Inventar, aus dem die Vorstellungen von Zukunft stammen.

Viele Besucher freilich, denen der Untertitel des Millenniums-Spektakels „Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts“ versprochen hat, vermissen in den mit assoziativen Schaustücken voll gestopften Kammern das Neue und Zukunftsweisende. Sie empfinden den Gang vorbei an ersten Rechenmaschinen, Fernsehgeräten und Transatlantik-Kabeln, die als Souvenir wie ein flaggengeschmückter Baum montiert wurden, als wenig erhellend. Denn um die einzelnen Dinge und technologischen Stufen in ihrer Funktionsweise verstehen zu lernen, wie man es etwa von einem Technikmuseum erwarten kann, reicht die Ansammlung nicht aus. Die Inszenierung tendiert zur poetischen Verklärung.

In den Kunst- und Wunderkammern des 16. Jahrhunderts, die den Projektleitern Bodo-Michael Baumunk, Gereon Sievernich und ihren sieben Kuratoren als Leitmotiv für die Kombinatorik der Dinge galten, war neben dem Anspruch des Universellen auch immer die Faszination durch das Merkwürdige, Abweichende, Fremde und Exotische gegenwärtig. Sie scheinen die Schnittstelle zwischen einem magischen und analog-verkettenden Denken und den Systematisierungen der Neuzeit zu markieren. Ihre Ansammlungen von kunsthandwerklichen Objekten und Artefakten der Natur waren weniger als Belegexemplare und Untersuchungsgegenstände angelegt als vielmehr allegorische Ansammlungen, die in vielem den Charakter eines Memento mori annahmen.

Der Verweis auf den Tod und die Vergänglichkeit ist auch in den „Sieben Hügeln“ gegenwärtig, oft als Einspielung der Kunst. Man kann im zentralen Raum „Kern“ keine mit Legosteinen bauenden Roboter beobachten, ohne in den Augenwinkeln die Filmbilder der mad scientists aus „Golem“, „Frankenstein“ und „Metropolis“ wahrzunehmen, die oben über der Galerie flimmern. Hat man die Röhre eines Teilchenbeschleunigers durchschritten und die Reise durch das Innere einer Zelle in 3-D mitgemacht, steht man plötzlich vor dem „Atomic Alphabet“ des amerikanischen Künstlers Chris Burden von 1980, von A for Atom Bomb über H for Holocaust und P for Panic bis Z for Zero. Und bevor man aus der „Zivilisation“ in den „Weltraum“ hinübergeht, muss man wie eine Schleuse eine enge Kammer passieren, die mit Totenmasken, Grabplatten, Prothesen, Herzschrittmachern und wächsernen Studien von den verschiedenen Verwesungsgraden des Körpers einen wahrhaft das Schaudern lehrt.

Auch in Zukunft wird der Tod nicht abgeschafft, aber das Verhältnis zum ihm hat sich geändert. „Wer stirbt, hat versagt“, fasst der Philosoph Thomas Macho zusammen, der über die Manipulierbarkeit von Leben und Tod schreibt. Die alten Kunstwerke, die den Übergang vom Leben in den Tod als hauchdünne Linie beschrieben, erscheinen plötzlich wie ein Vorgriff auf das Niemandsland, das sich dank der medizinisch-technischen Aufrüstung an den Grenzen des Lebens ausweitet.

Offensichtlich haben den Kuratoren und ihren Architekten, die dunkle und verschachtelte Erlebnisräume gebaut haben, die 5.500 Quadratmeter Ausstellungsfläche kaum gereicht. „Wie bei Hempels unterm Sofa“ schreiben von der gegenständlichen Fülle überforderte Besucher ins Ausstellungsbuch. Ein Themenpark sieht anders aus: Er lässt weniger Zweifel an seinen Botschaften. Fast könnte man glauben, die „Sieben Hügel“ haben sich nur als Themenpark getarnt, in der vagen Hoffnung auf ein Publikum, das größer ist als die Gemeinde der Museumsgänger – die wären kaum zu locken mit einem Motto wie „die schönsten Trümmer zerbrochener Träume“.

„Sieben Hügel“, bis 29. 10., Martin-Gropius-Bau, Berlin; der Katalog (sieben Bände), ist im Henschel Verlag Berlin erschienen und kostet 60 DM

Hinweis:Ist der Hunger nach Vergangenheit bloß ein Effekt der Modernisierung?