Gutenbergs Grab

Ich habe die Zukunft des Kulturpessimismus gesehen, und sie heißt elektronisches Buch  ■ Von Eberhard Spohd

Da verkündet einer wirklich vollmundig: „6. Juni 2000 – das digitale Buch-Zeitalter beginnt.“ Wie meist, wenn ein Marketing-Mensch bei einer Präsentation mit markigen Worten große Dinge ankündigt, stimmen sie nicht. Schließlich werden Bücher längst in digitaler Form geschrieben, lektoriert, gespeichert, zu Druckvorlagen verarbeitet. Was also meinte Eckhard Südmersen, Geschäftsführer von Bertelsmann Online-Buchhandel (BOL), mit diesem Megasatz? Nichts Besonderes. Nur, dass BOL und die kalifornische Firma NovoMedia gestern den Startschuss für den Verkauf des ers-ten elektronischen Buches in Deutschland gegeben haben. In Amerika gibt es das natürlich schon. Nicht gerade ein neues Zeitalter. Eher wurde ein neuer Markt, neue Vertriebswege, neue Verdienstmöglichkeiten eröffnet.

Seit gestern können Kunden – Fachbegriff: Leser – Bücher aus dem Internet auf ihren heimischen PC laden und sie dort nicht lesen. Dafür müssen sie ein weiteres Gerät, das sogenannte Rocket eBook, für 675 Mark erwerben. Dorthin können sie die Werke von ihrem Computer weiter transformieren. Das ist zwar umständlich, ließ sich technisch aber nicht anders machen, schließlich sollen die Urheberrechte bestmöglich geschützt und die Werke vor Raubkopien gesichert werden. Dazu hat jedes eBook eine geräteeigene Identitätsnummer, für die das verschlüsselte Datenpaket des bestellten und he-runtergeladenen Buches freigeschaltet werden muss.

Dann aber können auf dem Rocket eBook bis zu 50 vierhundertseitige Romane gespeichert werden. Das hat im Urlaub enorme Vorteile: Die komplette Lektüre für drei Wochen wird in ein Gerät gespeist und kompakt in die Tasche gepackt. Für jedes Werk muss der Leser per Kreditkarte bezahlen, meist denselben Preis wie für die altmodisch gedruckte Version. Schließlich werden sich die meisten Verlage auch bei den elektronischen Versionen an die Buchpreisbindung halten.

Sie profitieren ohnehin mehr als die Leser vom neuen Medium eBook: Für sie entfallen Papier-, Druck-, Lager- und Remittendenkosten, und lieferbar sind ab jetzt alle Bücher für immer. Die Umwandlung eines Werkes auf das verwandte HTML-Format kostet sie etwa 400 Mark. Eine Investition, die sich schon nach wenigen verkauften Exemplaren auszahlt.

Nur sollte man sich genau überlegen, ob man das neue Trägermedium noch Buch nennen möchte, wie es BOL und NovoMedia tun. Schließlich haben die eBooks so gut wie nichts mehr gemein mit der Gutenberg-Galaxis. Man kann sie nicht mehr durchblättern, durchschmökern, ins Regal stellen, verleihen, wegwerfen, verbrennen, und ein wackelnder Tisch lässt sich auch nicht einfach durch die entsprechende Hardware korrigieren.

„Ein Buch wird über den Inhalt beschrieben“, wagte sich Südmersen auf unsicheres Terrain, „Milch ist eine Produktbeschreibung, Buch nicht.“ Was natürlich ebenso Quatsch ist wie die Sache mit dem Beginn eines neuen Zeitalters.