Gegen neue Raketenabwehr

Gemeinsames Gutachten der Friedensinstitute befürchtet neue Rüstungsspirale. Vorschläge für Krisenprävention der EU. Für die Abschaffung der Wehrpflicht

BERLIN taz ■ Wer die Arbeit der deutschen Friedensinstitute für ein zwar lobenswertes, aber gemessen an den Realiäten weltfremdes Unternehmen hält, sah sich gestern eines Besseren belehrt. Das Friedensgutachten 2000, traditionelles Gemeinschaftswerk der Institute, wirft die nach dem Kosovo-Krieg von 1999 entscheidenden Fragen auf: Wie kann eine künftige europäische Friedenspolitik aussehen, welcher Art werden die militärischen Instrumente sein, die im Rahmen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik entwickelt werden, und wie soll sich das Verhältnis von zivilen und militärischen Formen der Konfliktlösung entwickeln?

Auf der Ebene weltpolitischer Analyse unterstreicht das Gutachten die Tendenz der Supermacht USA zum „Unilateralismus“, das heißt zu einer strikt nach dem nationalen Interesse ausgerichteten Politik. Hauptsächliches Indiz hierfür ist nach Meinung der Friedensforscher das Projekt, ein nationales Raketenabwehrsystem, das „Mini-SDI“, zur Abwehr von Überfällen der „Schurkenstaaten“, z. B. Nordkoreas, aufzubauen. Das Gutachten befürchtet, ein solcher Schritt werde eine neue Rüstungsspirale in Gang setzen.

Die 1999 in Helsinki beschlossene europäische Krisenreaktionsstreitmacht von 50.000 (mit Austauschkapazitäten von 200.000 bis 300.000) Mann zeigt dem Gutachten zufolge ein doppeltes Gesicht. Euromilitarismus oder friedensorientierte Intervention? Schon im Begriff der Krisenreaktion sind beide Entwicklungsrichtungen eingeschlossen. Die Rüstungsprojekte für diese Streitmacht weisen eher in Richtung einer Verdopplung der Nato-Strukturen. Müsste sich aber die in Aussicht genommene Reaktionsstreitmacht nicht den besonderen Konfliktszenarien anpassen, die eben keine Ähnlichkeit mit dem Nato-Luftkrieg gegen Serbien haben? Das Gutachten unterstreicht nochmals die Tatsache, dass im Kosovo zwar eine Unzahl zielsicherer Waffen aufgeboten wurde, es aber nach der Erichtung des De-facto-Protektorats an Polizeikräften mangelte. Deren Soll-Stärke hat erst 25 Prozent erreicht.

Im Friedensgutachten finden sich eine Reihe instruktiver Aufsätze über die Möglichkeiten ziviler Konfliktprävention durch die EU, wobei die Bedeutung des Stabilitätspakts für den Balkan angemessen gewürdigt wird. Die Autoren stellen die psychologischen Effekte heraus, die aus der europäischen Einbindung der Region folgen und zeigen, wie wichtig es ist, Hilfe an die Einhaltung menschenrechtlicher Standards zu binden. Natürlich fehlt auch nicht das Plädoyer, die OSZE aus ihrem Schattendasein als demokratischer Dienstleister zu befreien, sie zu „repolitisieren“. Was die allgemeine Wehrpflicht anlangt, so bringen die Friedensinsititute ein weiteres Mal ihre wohlbekannte Auffassung zum Ausdruck: Sie muss abgeschafft werden. Wehrpflicht als einschneidende Freiheitsbegrenzung setzt eine anhaltende Bedrohung des Gemeinwesens von außen voraus. Sieht man von einem Restrisiko ab, kann davon nicht mehr die Rede sein. Die neuen Aufgaben der Konfliktprävention, auch der bewaffneten Friedenssicherung und -wiederherstellung erfordern eine tief greifende Reform der bewaffneten Streitkräfte, aber gerade nicht ein Wehrpflichtigen-Heer. In der Diskussion des Gutachtens sahen die Institutsvertreter auch die Empfehlungen der Weizsäcker-Kommission ganz in der Nähe ihrer Vorstellungen. CHRISTIAN SEMLER