Der Kick der Katastrophe

Das Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 war ein Schub nicht nur für die Gegenöffentlichkeit, sondern auch für die Modernisierung der Industrie, die nachhaltiger scheint als die Anti-Atom-Bewegung

BERLIN taz ■ Es ist wohlfeil, die Reaktionen auf die Tschernobyl-Katastrophe von 1986 als hysterische Posse der jüngeren Vergangenheit abzutun: die Panik der Mütter; die Registrierung von Cäsium- und Jodwerten in Milch und Salat, die wichtiger wurden als der Wetterbericht und sogar die Bundesliga-Ergebnisse. Der Alltag erlebte einen jener raren Momente tief greifender Verstörung – zumindest bei denjenigen, die nicht den Lügen der Minister und bestallten Atomexperten glaubten.

Dass damals Leute bis nach Neuseeland geflohen sind vor der radioaktiven Wolke, dass das Ende der Atomenergie nur noch eine Frage von wenigen Jahren schien – ein Mythos, nur erklärbar aus der aufgeregten Endzeitstimmung Mitte der 80er, um den sich heute keiner mehr schert? Das stimmt nur zum Teil. Der Mythos Tschernobyl wird längst nicht mehr in jeder Sonntagsrede gepflegt, und die Katastrophe hat hier zu Lande auch kaum noch Auswirkungen auf aktuelle politische Entscheidungen.

Aber die Lügen von Politikerkaste und Nukleargemeinde und die Angst der Bevölkerung erschütterten damals die Gesellschaft weit mehr als zum Beispiel heute der CDU-Spendenskandal: Nicht nur die Bundesregierung hatte sich blamiert, allen voran der CSU-Innenminister, der noch jede Gefahr leugnete, als er längst wusste, dass die radioaktiven Isotope auch über Westeuropa massiv abgeregnet wurden. Auch die von der Industrie bezahlten Experten haben ihre Glaubwürdigkeit seitdem nicht wiedergewonnen. Der explodierte Reaktor war der entscheidende Kick für alternative Forschungsinstitute, für Selbsthilfeinitiativen und neuer Schwung für Anti-Atom-Bewegung und globales Misstrauen gegen offiziöses Expertentum.

Es war aber auch der Auftakt für eine lang anhaltende Modernisierung der großen Konzerne. Ob Strom- oder Chemiekonzerne, ob Gen- oder Autoindustrie: Die cleveren Manager traten den langen Marsch nach vorne an, weil die alten einfach nicht mehr ernst genommen werden konnten. Die Wirtschaft baute sich einen neuen Gegenmythos auf, um ihre Kritiker wieder einmal auszubooten. Nicht mehr bräsige Zurschaustellung der eigenen Macht, nicht mehr brachiale Tonnenideolgie und Machbarkeitsglaube beherrschten das Bild, dass die Presseabteilungen in der Öffentlichkeit erzeugen wollten. Der Unternehmer wurde vielmehr zum verantwortungsvollen Nutzer der Ressourcen stilisiert. Natürlich immer unter der Maxime des Geldverdienens und leider in den Fesseln des globalen Wettbewerbs mit den bösen Bossen in anderen Ländern, aber doch der wertvollste Diener der modernen Industriegesellschaft.

Je weiter die Katastrophe von Tschernobyl in der Vergangenheit versinkt, desto klarer wird der Gegenmythos der Industrie sich durchsetzen. Sie arbeitet beharrlich weiter dran, während das Interesse an Anti-Atom-Aktionen schwindet. Die Panik nach Tschernobyl war vielleicht übertrieben – aber ohne die generelle Alarmiertheit wären die Kritiker auch nicht ernst genommen worden. REINER METZGER