Urmutter des Tanzes

Liebe und die Angst davor: Mit 7000 Seidenblumen und ihrem Stück Nelken gastiert Pina Bausch im Schauspielhaus  ■ Von Marga Wolff

Das Schauspielhaus feiert mit Pina Bausch. Im Jubiläumsjahr darf Deutschlands Tanztheaterlegende, „Urmutter“ des Tanztheaters, wie sie oft genannt wird, als Gratulantin nicht fehlen. Und sie sagt es mit Blumen, um genau zu sein, mit 7000 rosa Seidennelken, die die Bühne in ein Blütenmeer verwandeln. Nelken hat sie denn auch schlicht dieses Stück von 1982 genannt, das sie mit dem Tanztheater Wuppertal an der Kirchenallee zeigt.

Es geht um die Liebe. Und es sei ihr heiterstes Stück, sagt man. Eigentlich geht es bei Pina Bausch immer um die Liebe – und um die Angst. Nicht wie sich die Menschen bewegen, sondern was sie bewegt, interessiere sie. Das klingt heute wie eine Binsenweisheit, die eine Vielzahl an Choreografen im zeitgenössischen Tanz für sich verbucht. Doch kaum jemand hat dieses Credo so lebendig, unverblümt ehrlich, dazu mit einer gehörigen Portion Humor auf der Bühne in die Tat umgesetzt.

Immer spielt auch ein Stück Vergangenheitsbewältigung eine Rolle im Tanztheater der 1940 in Solingen geborenen Tochter eines Kneipenwirts. 1978 hat sie die beklemmende Tristesse dieser deutschen Jugend in den 50ern in „Café Müller“, in dem sie zuweilen heute noch selbst tanzt, eingefangen. Der Region ist sie treu geblieben, gerade wegen des unspektakulären, normalen Lebens dort. Anfangs hielt sie noch an den großen, archaischen Ritualen fest, wie 1975 in Le Sacré du Printemps, bevor sie die kleinen, alltäglichen entdeckte: in Kinderspielen, Schlagerrefrains und in ganz persönlichen Bekenntnissen.

Da stehen die Darsteller in Nelken dann vorne an der Rampe und erzählen von ihrer ersten Liebe. Klischees, Heuchelei und unerfüllte Sehnsucht werden erforscht, Verhaltensmuster aufgebrochen, um der Wahrheit in unserem gesellschaftlichen Daseins ein Stück näher zu kommen. Man kitzelt sich gegenseitig die Füße, biegt sich vor Lachen und betet dabei in der jeweiligen Muttersprache das „Vater Unser“. Und mal ehrlich: Rosa Nelken gaben schließlich immer schon ein Bild ab für den Inbegriff bürgerlicher Spießigkeit.

Wild, lustvoll und anarchisch, in einem Wechselbad der Gefühle, zwischen Terror und Spiel, wird hier das Feld der Liebe beackert. Ein verbotenes Terrain, das bewacht von zwei Schäferhunden an langer Laufleine 1982 noch unweigerlich an den Todesstreifen der innerdeutschen Grenze denken ließ. Einige der 26 Tänzerinnen und Tänzer gehörten zum Teil der ursprünglichen Besetzung an: Helena Pikon, Jan Minarik, Lutz Förster, der in Hamburg seinen Bühnenabschied nimmt. Hervorragende Protagonisten, durch die der Kosmos der Pina Bausch erst Gestalt annahm. Und die jungen, nachgerückten werden wohl kaum mehr die Geschichten ihrer Vorgänger erzählen, sondern ihre eigenen.

Ein Prozess steter Wandlung und Erneuerung. Damals 1982, das Tanztheater Wuppertal feierte sein 10-jähriges Bestehen, herrschte immer noch Skepsis gegenüber der Kunst der Erneuerin des Tanzes. Zwar war Nelken das erste Stück, bei dem das Publikum nicht scharenweise den Saal verließ. Doch fragten sich viele, wohin das Ganze führen sollte. Diese rohen, collagenartig verkitteten Teilchen gegen den „schönen Tanz“, das immer gleiche Muster aus Kinderspielen, Biografischem, traumhaften Bildern, seelischen Ausbrüchen, aberwitzigen Reihentänzen. Die Zweifel sind verflogen.

Nicht zuletzt ist es einer gewissen Hartnäckigkeit der zierlichen Tanztheaterfrau zu verdanken, dass bis heute einmal im Jahr die internationale Tanzszene in einem feierlichen Ritual in die deutsche Provinzstadt Wuppertal pilgert. „Ein Stück von Pina Bausch“ heißt es dann, bevor das Kind einen endgültigen Namen erhält. Sie arbeite nie aus einem äußerlichen, theoretischen Grund heraus. Es ginge ihr immer nur darum, wie sie aus-drücken könne, was sie fühlt, antwortete sie kürzlich in einem Interview auf die Frage, ob ihr bewusst sei, dass sie das Tanztheater revolutioniert habe.

Am Schluss von Nelken umarmen die Tänzer mit strahlenden Gesichtern die Zuschauer. „Ich glaube“, sagte sie an anderer Stelle, „wenn man zusammen bestimmte Momente erlebt, oder vielleicht sogar gelacht hat oder lächelt, das gibt einem schon wieder Kraft oder Freude oder Hoffnung.“ Lächeln gegen die Angst.

Fr, 9. bis Mo, 12. Juni, jeweils 20 Uhr, Deutsches Schauspielhaus