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: HELMUT HÖGE über Modern Marketing

Die Klon-Zeugen-Jehovas

Am Vatertag sah ich auf den Flaktürmen im Weddinger Humboldthain ein Yuppie-Pärchen vom Feinsten: Sie blond, langbeinig, im schicken Kostüm, mit einem Hefter in der Hand und einem Handy; er im Nadelstreifenanzug, mit Weste und kleinem Köfferchen. Beide überaus gepflegt mit einem gewinnbringenden Dauerlächeln. Plötzlich fingen sie jedoch an, der Reihe nach alle auf den Bänken dösenden Penner zu missionieren, wobei sie mit ihrer Zeitschrift Flakturm wedelten. Nach etwa zwei Stunden verließen sie den Park wieder – unverrichteter Dinge.

Am darauf folgenden Tag ging ich die Friedrichstraße in Mitte runter und stieß alle paar Meter auf gepflegte junge Kurzhaar-Männer in mausgrauen Anzügen, die einen Hefter in der Hand hielten und immer wieder Leute ansprachen. Das waren jedoch keine Zeugen Jehovas, wie ich zunächst vermutete, sondern irgendwelche Handy-, Computer, Wohnungs- oder Autoverkäufer im Face-to-Face-Business. Sie benutzten die edle Friedrichstraße quasi als ihre Bürokulisse: als Topadresse. Gleiches passierte dann auf der Schönhauser Allee vor den Arcaden – wo zwölf solcher Jung-Smarties ein regelrechtes Spalier bildeten und jeden, der durchkam, fragten: „Haben sie schon ein Telefon!“ Das waren so genannte Werber von Otelo.

Früher hatten die Zeugen Jehovas, die meistens zu zweit mit ihrem Wachtturm an irgendwelchen miesen Straßenecken standen, immer etwas amodisch Biederes, Hyperadrettes. Jetzt machten sie einen auf erfolgreiche Young Executives. Und diese wiederum machen jetzt einen auf Zeugen Jehovas. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgend so ein Callcenter-Arschloch mich mit geschulter Bibel-Stimme anruft, um mir ein Eigenheim, eine Aktie oder ein Jahresticket für Lourdes zu verkaufen.

Neulich las ich die Biografie von Margarete Buber-Neumann. Sie war von den Sowjets an die Deutschen ausgeliefert worden – und kam aus dem Gulag ins KZ Ravensbrück. Dort war sie Barackenälteste bei den Zeugen Jehovas. Diese waren die einzigen Häftlinge, die jederzeit hätten nach Hause gehen können, dazu hätten sie sich bloß von ihrem Glauben schriftlich lossagen müssen. Das taten sie jedoch nicht, im Gegenteil, sie radikalisierten sich noch. Margarete Buber-Neumann half etlichen – unter Lebensgefahr, sich vor der Arbeit zu drücken oder ein Leiden auszukurieren. Statt Dank bekam sie jedoch von den Zeugen-Jehova-Frauen immer nur zu hören: „Siehst du Margarete, wie gut unser Gott uns hilft, nun bekenne dich doch auch endlich zu ihm.“ Diese undankbare Blödheit machte mich geradezu rasend. Früher waren die Zeugen Jehovas mir – in Unkenntnis – geradezu widerständig erschienen. Der Witz an den heutigen Yuppie-Zeugen-Jehovas ist, dass die areligiösen Young Executives inzwischen mindestens alle genauso gläubig ihre karrieristische „Mission“ erfüllen. Insofern kann man von den postmodernen Wachtturm-Verkäufern allerhand lernen.

Die FAZ-Berlinredaktion ist eine Art „Königssaal“ für diesen ganzen Schwachsinn. Keiner hat ihn derart sinnfällig umrissen wie der Redaktionsleiter Florian Illies in seinem Benimmbuch für die „Generation Golf“ – wohl das grausamste In-und-Out-Lifestyle-Lexikon, das derzeit zu haben ist. Es geht darin mitnichten um den „Verblendungszusammenhang“, der in dieser mit Hauptstadtgedröhne und Wichtigtuern vollgerammelten Stadt, zwischen hippen Architekturen und sich überschlagenden Werbebotschaften, in völliger Ideenlosigkeit, nur mit postsozialistischer Abgreifmentalität einen Grad von Verdichtung erreicht hat, zehn Jahre nach der sogenannten Wende, dass München, Bremen und Stuttgart von ihren Arschlöchern befreit sind: Die tummeln sich jetzt alle hier – mit ihren Labtops und Handys bzw. BMWs mit Haifisch-Kiemen an der Seite. Es gibt bereits eine erste Adresse für diese ganzen Klon-Zeugen: der „Shark-Club“ in Mitte, die Haifische dort – im 16.000-Liter-Aquarium – sind aber so klein, dass man sie gar nicht sieht.