„Das Leben ist so schwer, das Leben“

Eineinhalb Jahre lang nervt ein Gelegenheitsarbeiter Gerichte, Gnaden-stellen und Politiker mit seiner Kritik an der Justiz. Jetzt resümiert er

von BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Sein Name tut nichts zur Sache. „Nennen Sie mich O.W., O wie Oh und W wie weia“, schlägt er vor. Obwohl kaum jemand den 50-jährigen Gelegenheitsarbeiter kennt, ist er vielen bekannt, besonders in der Berliner Justiz.

Seit November 1998, als er einen Artikel über Sicherungsverwahrung las, der ihn „außerordentlich empörte“, stürzt er sich auf „Eigentümlichkeiten“ in Gerichtsverfahren. Am meisten stört O.W., der selbst einige Male mit der Justiz zu tun hatte, dass die Gründe für eine Tat – Schwarzfahren, Mord oder sexueller Missbrauch – nicht ausreichend erörtert würden; dass Angeklagte als „grundböse Unholde“ behandelt würden und „Richter die Gesetzestexte nicht lesen“. Seine Kritik daran schreibt er an den Verfassungsgerichtshof („Durch unzureichende Anwendung des Strafgesetzbuches wurde die Gleichheit verletzt. Vermute ich. Wie kann dies geheilt werden?“), an den Bundesgerichtshof („Wie ich lesen und hören konnte, vermute ich, dass das Strafgesetzbuch unzureichend angewandt wurde. Ist die Gleichheit verletzt?“) oder an Altbundeskanzler Helmut Kohl („Haben wir in Deutschland Gewaltenteilung?“).

Auch Land- und Kammergerichtspräsidenten, Bundeskanzler, Bundestagspräsidenten, Minister und Zeitungen bekommen Post in Sachen „unzureichend aufgeklärte Strafsachen“. Doch verstehen tut die Schreiben kaum jemand. Was soll auch Gerhard Schröders Büro mit einem Brief anfangen, in dem es heißt:

„Nach dem 6. November 1998 und vor dem 12. April 1999 war ich als Zuhörer bei dem Kriminalgericht Moabit, als gegen einen etwa 40-jährigen Mann verhandelt wurde wegen des sexuellen Missbrauchs eines 11 bis 13-jährigen Mädchens. Der Mann ist Zettelverteiler, als er eine etwa gleichaltrige Frau mit zwei Kindern kennen lernte. Die Tochter ist etwa 10 Jahre, der Sohn ist etwas älter. ... Einige Jahre vorher wird der Vater wegen Diebstahls von Zigaretten und Schokolade verurteilt. Warum er stahl, wird weder erlesen noch erfragt. Ich vermute, er wollte oder konnte nicht mit leeren Händen zu der Familie, und er wollte oder konnte für die gefüllten Hände nicht bezahlen. ... Bitte handeln Sie.“

O.W. erscheint in der Regel eine Viertelstunde vor Prozessbeginn und studiert die Aushänge im Land- oder Kammergericht. Zufall und Emotionalität entscheiden darüber, welche Verfahren er sich anhört. Auf jeden Fall hat er ein Faible für Menschen mit „Brüchen in der Biografie“: „Die wandern in die Kriminalität ab, ohne zu wissen, dass die Delikte strafwürdig sind.“ Diese Verbundenheit mag mit den Brüchen in seinem eigenen Leben zu tun haben. „Bei mir hätte nicht viel schief laufen brauchen, und ich säße da, wo die Angeklagten sitzen.“

Hinter Gitter hat O.W. nie gesessen. Wegen mehrmaligen Fahrens ohne Führerschein bzw. unter Alkohol kam er mit Geld- bzw. Bewährungsstrafen davon. An einige Delikte, die er im Suff beging – das Abbrechen einer Taxiantenne oder das Setzen auf ein fremdes Motorrad – konnte er sich nur am nächsten Tag anhand eines Pflasters in der Armbeuge vom Blutalkoholtest erinnern. O.W. betont, dass er mit seinen Gesetzesüberschreitungen nicht zu der „Problemgruppe“ gehört, die ihn beschäftigt.

An den Präsidenten des Amtsgerichts Tiergarten: „Um 13.30 Uhr wurde gegen einen jungen Mann verhandelt, der bei der Love Parade 1998 einen anderen körperlich misshandelt hatte. ... Bewiesen wurde, dass der Angeklagte mit einer durch Alkoholverbrauch herabgesetzten Hemmschwelle einen anderen misshandelt hat. Können Sie und Ihr Haus bei Verhandlungen, bei denen es auch um den Einsatz körperlicher Gewalt geht, die Angeklagten in Zukunft fragen, wann sie das erste Mal und wann sie das letzte Mal geschlagen wurden und von wem und ob sie einsehen konnten, warum sie geschlagen wurden?“

O.W. ist überzeugt, dass auch seine Verurteilungen auf „Fehlurteilen“ beruhen. Beeindruckend ist O.Ws Auslegung der Gesetzestexte. Einmal geriet er mit einer Dame auf dem Sozialamt in Streit – „Ich wollte mich nur über Sozialhilfe informieren“. Als diese ihn abweisen wollte, weil seine Kontoauszüge das geerbte Vermögen seiner verstorbenen Mutter von 20.000 Mark auswiesen, ließ er die Polizei rufen. Das Ende vom Lied: O.W. wurde wegen missbräuchlichem Gebrauch von Notrufen verurteilt. „Es war aber nur ein Notruf“, sagt er mit ruhiger und ernster Stimme. „Nach dem Gesetzestext ist nur der Plural strafwürdig.“ So wie er dabei guckt, möchte man den Gesetzestext zur Hand nehmen und nachsehen, ob er nicht vielleicht Recht hat. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt, den erhofften Freispruch bekam er nicht. „Das fand ich eine große Sauerei.“

An Bundespräsidenten Johannes Rau: „Warum wehren sich Untersuchungshäftlinge vor dem sie aburteilenden Gericht so selten? Wiederholt sah und hörte ich Untersuchungshäftlinge, die sauber, ordentlich, vernünftig, zurückhaltend, aufmerskam und zaghaft waren. ... Sie wirkten so, dass man meinen möchte, sie könnten kein Verbrechen begehen respektive sie würden keines mehr begehen. In diesem Fall hätte sich eine weitere Inhaftierung erledigt.“

Sauber, ordentlich, vernünftig, zurückhaltend, aufmerksam, zaghaft – die von O.W. für Angeklagte verwendeten Attribute passen auch auf ihn. Der 50-Jährige könnte vom Äußeren als ein Vertreter der Berufsgruppe durchgehen, die er vehement angreift. Alles ist fein an ihm: die kurzen ergrauten Haare, die Brille, die Stimme. Dabei hat er sich fast sein ganzes Leben mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen. Nach der mittleren Reife, einem Maschinepraktikum und Armeedienst jobbte er in Wuppertal in der Kühlschrankmontage am Fließband, war Organisationshelfer in einer Metallwarenfabrik und Kraftfahrer in einer Spedition. 1971 zog er nach Berlin und arbeitete als Lagerarbeiter in einer Elektrofirma. Nachdem er die Hochschulreife nachholt hatte, studierte er vier Semester Kunstgeschichte und Philosophie. Gerne hätte er über das Weltengericht promoviert. Weil er aber keine Lust auf das große Latinum hatte, jobbte er wieder.

Seinen letzten Job als Kraftfahrer für eine Bäckerei im Brandenburgischen verlor er im Herbst 1998, weil er Geld aus der Kasse genommen haben soll. Auch das ist nach seiner Überzeugung nicht im Einklang mit der Gesetzeslage gelaufen. Man könne nicht wegen Diebstahl, „sondern nur wegen des Verdachts des Diebstahls“ gekündigt werden, belehrt er. Außerdem habe er sich nur einen Vorschuss genommen, nachdem der Chef ihm Geld geschuldet habe. Doch Rechtsmittel legte er nicht ein. „Mein Vater war am Vortag gestorben, da hatte ich andere Probleme – und Geld.“

An das Kammergericht: „Ein Mensch wurde durch einen Menschen getötet. Die Öffentlichkeit hat ein besonderes Interesse zu erfahren, wie so etwas geschehen konnte.“

O.W. sieht sich als „Teil der Öffentlichkeit“. Er will wissen, „wann die Weichen gestellt sind und es zu Fehlverhalten kommen kann, damit man weiß, hoppla, so was führt zu einem schweren Rechtsbruch“. Dazu kriecht er unter die Haut der „nicht durch und durch kriminellen Objekte“ und glaubt zu spüren, was in ihnen vorgeht, wenn sie im Gerichtssaal sitzen und nicht wissen, ob sie den Mund halten oder zu ihrer Verteidigung reden sollen. „Eine rhetorisch gebildete Mittelschicht herrscht mit ihrem Wissen über eine Unterschicht“, so sein Eindruck. Normalerweise hätten diese beiden Gruppen nichts miteinander zu tun, bemerkt er nicht ganz unrichtig. Sein Mitgefühl für die Angeklagten geht so weit, dass er gebrauchte Computerzeitschriften, frankierte Briefumschläge oder Christstollen ins Gefängnis schickt. Denn: „Kein Krimineller ist es wert, Gesetze zu brechen.“

An die Senatsverwaltung für Justiz: „Ich bitte um Gnade für Herrn Dieter Kunzelmann (Aktionspolitologe und ehemaliges Mitglied der Alternativen Liste, der bis vor kurzem eine zehnmonatige Haftstrafe wegen mehrerer Eierwürfe auf Berlins Regierenden Bürgermeister absaß. Anm. d. Red.) ... In Meyers Konversationslexikon, vierte Auflage, dreizehnter Band, Politik, las ich, Politik habe die Frage zu lösen, wie ein Staat sein soll. Dies hat Herr Kunzelmann wiederholt getan.“

Meyers Konversationslexikon ist neben einem alten Kinderbuch „Die Serengeti darf nicht sterben“ und einigen Bibelausführungen die einzige Literatur in der Schrankwand seines Einzimmerappartements wenige hundert Meter von der Deutschen Oper entfernt. Außer einer Grafik einer Lübecker Kirche, die er vor vielen Jahren bei einer Versteigerung von Björn Engholm zugunsten von Projekten gekauft hat, ist die Wohnung schmucklos. So schmucklos, dass sie trostlos wirkt mit der fast leeren Schrankwand, dem schmutzigen grauen Teppichboden, dem schlichten Schrank mit drei Koffern obenauf, dem penibel aufgeräumten Schreibtisch und dem Rauschen des Verkehrslärms von der nahen Magistrale. Fernseher, Telefon oder Radio sucht man vergeblich. „Das halte ich für den Zusammenbruch der Kommunikation“, sagt O.W. Bei den wöchentlichen Treffen mit seinem Bruder, der als Psychologe in Berlin arbeitet, erfahre er die wichtigsten Nachrichten. Und Veränderungen über die Welt nimmt er lieber „übers Kino“ wahr.

An den Präsidenten des Deutschen Bundestages: „Ist es Ihnen möglich, für Herrn Dieter Kunzelmann zu bitten?“

Bei Gnadengesuchen kennt O.W. keine Gnade. Oft ohne Angabe des Namen des Verurteilten und oft schon vor der Urteilsverkündigung deckt er die Gnadenstelle mit Anträgen ein. Denn: „Ohne Gnade keine Justiz.“ Darüber hinaus appelliert er an Verwandte, Zeitungen und Politiker, es ihm gleichzutun. In der Gnadenstelle haben die Beamten anfangs noch mühsam recherchiert, dann haben sie ihn rausgeworfen. „Wir können doch nicht 50 Akten liegen lassen, um für den Herrn zu recherchieren“, schimpft ein Beamter. Zwar enden die wenigen Antwortschreiben, die O.W. erhielt, stets mit „Hochachtungsvoll“. Doch zugleich wird er auf die „durch die Verfassung gewährleistete Unabhängigkeit der Rechtsprechung“ hingewiesen und darauf, dass es sich bei seinen Schilderungen um „subjektive Eindrücke und Vermutungen“ handle. Doch das ficht O.W. nicht an. Immerhin habe ihm der Spiegel „immer aufmerksam zurückgeschrieben“ und Berlins Regierender Bürgermeister „für das Vertrauen gedankt“. Die Frankfurter Rundschau versprach ihm, seine Zuschriften als „Merkposten“ zu den Unterlagen zu nehmen. Der Tagesspiegel entschuldigte sich bei O.W., dass er seine Zuschriften auf Grund der Fülle der wöchentlichen Zuschriften nicht als Leserbrief drucken kann. Die Süddeutsche Zeitung schrieb: „Ich verstehe Ihre Entrüstung sehr gut, kann Ihnen aber leider nicht helfen. Unsere Strafprozessordnung ist nun einmal so angelegt.“

Auch von einem Verurteilten, für den er ein Gnadengesuch gestellt hatte, erhielt O.W. Post. „Ich würde mich freuen, wenn wir in Kontakt treten könnten und gemeinsam wegen dem Gnadengesuch etwas machen könnten“, schrieb er aus der Haft. Doch O.W. lehnte ab. „Achten Sie bitte meinen Wunsch, dass ich weder schriftlichen noch mündlichen noch persönlichen Kontakt zu Ihnen möchte.“ Er zieht es vor, unsichtbar zu bleiben.

So war es auch bei der taz, der er ebenfalls regelmäßig schrieb. Um das Porto zu sparen, gab er seine Briefe stets persönlich ab. Der schriftlichen Bitte, sich in der Redaktion zu melden, kam er zwar mit einem Antwortschreiben und dem vagen Versprechen, anzurufen, nach. Doch der Anruf blieb aus. Der Kontakt zu ihm kam schließlich dadurch zustande, dass er der Autorin bei einem seiner Besuche zufällig in die Arme lief. Nach einem langen Vorgespräch war er zu einem Treffen bei sich zu Hause bereit.

An das Landgericht: „Während der Verhandlung erwähnt der Gutachter eine Besonderheit im Geschlechtsleben des Angeklagten: der vorzeitige Samenerguss. Wenn ich onaniere und beim Reiben die konservative Stellung bevorzuge: auf dem Rücken liegend mit gestreckten Beinen, ist der Samenerguss schnell und direkt. Öffne ich ein wenig die Schenkel, kann ich lange und ausgiebig reiben. Warum ist dies so?“

O.W. sagt über sich selbst: „Ich bin kein sonderlich geselliger Mensch.“ Das habe mit seinem Engagement in der evangelischen Gemeinde zu tun. Als „praktizierender Christ“ sei es schwer, Freunde zu finden. Auch mit den Frauen hat er kein Glück gehabt. Bevor er vor fünf Jahren in das Einzimmerappartement einzog, war er weniger isoliert. Er lebte zur Untermiete bei einem ehemaligen Verlagsleiter einer kleinen Berliner Zeitung. Als dieser starb, bildete er zusammen mit zwei weiteren Männern eine Art „Notgemeinschaft“. Lieber heute als morgen würde er wieder in einer WG wohnen. Nur: „Es ist schwer, eine WG von 50-Jährigen zu finden.“

Es gab Momente, in denen er nicht mehr leben wollte, zuletzt 1994. Die Frage, was ihm das Leben so schwer mache, erscheint ihm ziemlich dumm. „Das Leben ist so schwer, das Leben“, sagt er mit einem belehrend-belustigten Tonfall, dass man unwillkürlich auch lachen muss. Dann wird er wieder ernst. „Auch ich habe etwas aufbauen wollen, worauf ich zurückschauen kann.“ Als sein Blick auf den etwa zwei Schuhkartons hohen Papierstapel fällt – die Kopien seiner gesammelten Briefe – scheinen ihm Zweifel zu kommen: „Da bin ich reingeschlittert, ich hatte Geld und nichts zu tun.“

An die Senatsverwaltung für Justiz: „Glaubhaft wurde vermittelt, dass der Angeklagte in Notlagen schuldig wurde, denn das erhöhte Beförderungsentgelt konnte er nicht vor Ort bezahlen, es wurden seine Personalien festgetellt. Der Angeklagte sagte, sein Arbeitgeber zahle unregelmäßig und meist zu wenig. ... Ich bitte für den Verurteilten.“

Dieser Fall eines Mannes, der wegen dreimaligem Schwarzfahren zu einer saftigen Geldstrafe verurteilt wurde, hat O.W. am meisten empört. Der Grund: „Wer gibt gerne zu, dass sein Leben ein Fehlschlag ist und dass er kein Geld hat?“ Es habe sicher Gründe gegeben, dass der Arbeitslose dreimal schwarzgefahren ist. „Das ist doch der Alltag, unter bestimmten Lebensumständen passiert so was.“

Mittlerweile ist das von den Eltern geerbte Geld fast aufgebraucht – O.W. hat zudem diverse Hilfsprojekte und Organisationen finanziell unterstützt –, und seine Magenschleimhaut ist auf „ein bis zwei Millimeter“ zusammengeschrumpft. Sein Resümee ist traurig: „Die immer wieder zitierte richterliche Unabhängigkeit gibt es nicht.“ Jetzt, wo er seine „Pionierarbeit“ beendet hat, sollen sich Zeitungen, Gesetzgeber oder das Bundesverfassungsgericht damit beschäftigen. O.W. sucht indes „nach einem neuen Themenkreis“. Vielleicht wird er sich als Händler für Kakao und Zucker versuchen oder in die FDP eintreten, der er bereits einige Jahre angehörte. Möglich ist aber auch, dass er sich als Schöffe bewirbt, um zu erfahren, wie es wirklich zugeht bei Gericht.