Fiktion und Fakten

Heute vor einem Jahr beendete die Nato ihre Luftangriffe auf Jugoslawien. Nach der hitzigen Debatte während der Intervention des Bündnisses ist es um das Kosovo merkwürdig ruhig geworden

von THOMAS SCHMID

Vor einem Jahr endete die Nato-Intervention in Jugoslawien – und damit der Kosovokrieg, in den die westliche Allianz eingegriffen hatte. Erinnern wir uns: Im Sommer 1998 zerstörten die jugoslawische Armee und Sondertruppen der serbischen Polizei mit schwerer Artillerie weit über hundert Dörfer und vertrieben rund 300.000 Albaner, um einer vieltausendköpfigen Guerilla das Wasser abzugraben.

Der Krieg begann also nicht am 24. März 1999, wie man heute oft hört, sondern mindestens ein Jahr früher. Ein brüchiger Waffenstillstand erlaubte zwar im Oktober 1998 die Rückkehr der Geflüchteten und eine kurze und trügerische Ruhe. Doch schon im Dezember brachen die Kämpfe erneut aus. Beide Kriegsparteien setzten fortan auf die militärische Karte. Als die OSZE am 20. März 1999 aus dem Kosovo abzog, waren bereits wieder etwa 50.000 Albaner vertrieben, und als vier Tage später die ersten Nato-Bomben fielen, waren es vermutlich schon rund 200.000.

Die westlichen Bündnispartner haben – zu verschiedenen Zeiten – unterschiedliche Ziele ihrer Intervention benannt: die Verhinderung eines Genozids, die Rückführung der Flüchtlinge und die Verhinderung einer Destabilisierung des Balkans. Die meisten Vertriebenen sind zurückgekehrt. Darüber, ob ein Genozid und eine Destabilisierung des Balkans verhindert wurden, lässt sich trefflich streiten. Denn wer behauptet, etwas sei verhindert worden, muss zumindest plausibel machen, dass das, was verhindert wurde, ohne die Intervention eingetreten wäre.

Öffentliche Äußerungen jugoslawischer Generäle und die bis zur Nato-Intervention geschaffenen Fakten legen zumindest nahe, dass das Belgrader Regime im Frühjahr 1999, anders als im Vorjahr, die definitive Vertreibung eines Großteils der albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo anstrebte. Auch spricht sehr vieles dafür, dass Milošević mit dem erzwungenen Massenexodus bewusst auf eine Destabilisierung Makedoniens setzte, die fatale Folgen für den ganzen südlichen Balkan gehabt hätte.

Nach der hitzigen Debatte über die Nato-Intervention ist es ums Kosovo merkwürdig ruhig geworden. Über die Zukunft wird kaum ein Wort verloren, weil niemand weiß, wie es weitergehen soll. Der Westen, der militärisch intervenierte, hat für die Provinz keine politische Lösung. Im Plan der G-8-Staaten, den Milošević nach elf Wochen Bombardement im Juni 1999 akzeptierte, hat sich die internationale Gemeinschaft darauf festgelegt, dem Kosovo eine „substanzielle Autonomie“ zu garantieren – innerhalb eines souveränen Jugoslawiens.

Ohne dieses Zugeständnis hätte der Westen Russland wohl nicht „ins Boot holen“ können; vielleich hätte auch Milošević seine Unterschrift unter das Agreement verweigert, das den Rückzug der serbischen Verbände aus dem Kosovo und den Einzug der fremden Truppen regelte. Und dann hätte die Nato vor der Entscheidung über den Einsatz von Bodentruppen gestanden, die den Zusammenhalt des Bündnisses arg strapaziert hätte.

Doch die Konzession an Milošević erweist sich nun als Hypothek. Faktisch ist das Kosovo von Serbien getrennt. Belgrad hat die Herrschaft über die Provinz verloren. Dass die Fiktion ihrer Zugehörigkeit zu Jugoslawien trotzdem aufrechterhalten wird, erweist sich nicht nur bei der Rechtsprechung, sondern auch beim wirtschaftlichen Wiederaufbau als Problem. Im Grundsatz gelten jugoslawische Gesetze, die größten Betriebe gehören dem jugoslawischen Staat oder sind Tochterfirmen serbischer Unternehmen. Die Herren des Protektorats tun dennoch gut daran, vorerst an der Fiktion festzuhalten und doch Fakten zu schaffen – wie mit der Einführung der D-Mark als offizielle Währung oder mit der Unterstellung der Energie- und Wasserwirtschaft unter die Aufsicht der UN ohne vorherige Klärung der Eigentumsfrage. Denn eine „substanzielle Autonomie“ des Kosovo ist nicht möglich, solange Milošević an der Macht ist, und das Kosovo in die Unabhängigkeit zu entlassen, ist auf absehbare Zeit barer Unsinn.

Doch ob die Strategie aufgeht, die Fiktion eines jugoslawischen Kosovo so lange aufrechtzuerhalten, bis in Serbien demokratische Verhältnisse einkehren, die eine Lösung der Frage – möglicherweise – erleichtern, ist fraglich. Einerseits ist ein Machtwechsel in Belgrad nicht in Sicht, und ob er demokratisch sein wird, ist höchst ungewiss. Andererseits könnte die Entwicklung in Serbien und vor allem in Montenegro die verdrängte Frage nach der politischen Zukunft des Kosovo schon früher aufwerfen als wünschenswert ist.

Viele Montenegriner halten die Unabhängigkeit ihrer Republik für eine wichtige Voraussetzung jeder wirtschaftlichen Entwicklung. Der Westen aber ist gegen den Austritt der kleinen Adriarepublik aus der jugoslawischen Föderation. Doch weshalb sollte Montenegro, das unter den Sanktionen gegen Jugoslawien wie auch unter der Blockade durch Serbien zu leiden hat, weniger Recht auf Eigenständigkeit haben als die anderen Republiken der zerbrochenen kommunistischen Föderation? Diese Frage stellt sich letztlich auch für das Kosovo. Zwar war für die „Autonomen Provinzen“ Jugoslawiens in der alten titoistischen Verfassung von 1974 – anders als für die Republiken – kein Sezessionsrecht vorgesehen. Aber sie waren nicht nur als Teil Serbiens, sondern auch als Teil eines Jugoslawiens definiert, das heute nicht mehr existiert.

Eine Autonomie, wie „substanziell“ auch immer, ist nach den Erfahrungen der letzten zehn Jahre vermutlich keine Perspektive mehr. Ein unabhängiges Kosovo verspricht auf lange Sicht wahrscheinlich mehr Stabilität als eines unter serbischer Herrschaft – vorausgesetzt man beugt einer Destabilisierung Makedoniens mit massiver Wirtschaftshilfe und mit einem politischen Angebot an die gesamte Region vor: schrittweise Integration in die EU unter klaren politischen Bedingungen, zu denen vor allem der Schutz der Minderheiten und das Recht auf Rückkehr der Vertriebenen gehören.

Je länger sich die Entscheidung über den künftigen Status des Kosovo aber aufschieben lässt, desto größer sind die Chancen, zu einer tragfähigen Lösung zu kommen. Im Kosovo wird sie noch schwieriger durchzusetzen sein als in Bosnien, und dort stehen die internationalen Truppen schon bald fünf Jahre.

Hinweise:Über die Zukunft des Kosovo wird kaum ein Wort verloren. .... weil niemand weiß, wie es in der Provinz weitergehen soll