Hungerstreik am Mittelmeer

In Tunesien verlangen islamistische und andere politische Gefangene eine Generalamnestie: „Präsident Ben Ali hat Tunesien zu einem großen Gefängnis gemacht“

MADRID taz ■ Die politischen Gefangenen in Tunesien wollen ihre Freiheit wiedererlangen. Seit vor zwei Wochen die ersten sieben Häftlinge gegen die „menschenunwürdigen Haftbedingungen“ in den Hungerstreik traten, solidarisieren sich immer mehr Gefangene mit ihnen, meist Islamisten. Neben einer Verbesserung ihrer Haftsituation verlangen sie mittlerweile eine Generalamnestie.

„Über 1.000 islamistische und kommunistische Gefangene verweigern die Nahrungsaufnahme“, erklärt der seit über zehn Jahren im Londoner Exil lebende Chef der verbotenen islamistischen Partei Annahdha, Rachid Ghanouchi. Die Maghreb-Spezialistin der Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai), Angelot Dommartan, bestätigt die Protestwelle, auch wenn sie sich auf keine genauen Zahlen festlegen will.

„Bedingt durch das Besuchsverbot sowohl für humanitäre Organisationen als auch für Familienangehörige und Anwälte können wir unmöglich feststellen, wie viele Gefangene sich tatsächlich den Protesten angeschlossen haben“, erklärt Dommartan die Schwierigkeiten bei ihrer Arbeit. Eines jedoch sei sicher, es handle sich um eine „breite Bewegung“.

Die meisten der politischen Gefangenen kommen aus dem Umfeld der islamistischen Annahdha. Die Partei wurde Ende 1990 von Tunesiens Präsident Ben Ali in den Untergrund gedrängt. Tausende ihrer Aktivisten wurden bei Großrazzien verhaftet. Laut Dommartan sitzen heute noch immer „bis zu tausend“ in Haft. Eine genaue Zahl kann sie auch hier nicht nennen. Der ai-Berichterstatter für Tunesien darf seit mehreren Jahren nicht mehr frei arbeiten.

Die Haftbedingungen sind verheerend. „Die Gefangenen sitzen in überbelegten Zellen, erhalten keine ordentliche Ernährung und keine medizinische Versorgung“, berichtet Annahdha-Chef Ghanouchi. Schläge und Folterungen seien an der Tagesordnung. Jeglicher Kontakt zur Außenwelt, ja selbst Presse und Bücher seien untersagt.

Der Islamistenführer weiß zu berichten, dass auch die Angehörigen von politischen Gefangenen ständig unter Druck gesetzt werden. Ehefrauen von exilierten Annahdha-Mitgliedern werden gedrängt, sich scheiden zu lassen. Ausreisen, um bei ihren Männern zu sein, können sie nicht: Ihnen wurde meist der Ausweis entzogen. „Präsident Ben Ali hat ganz Tunesien zu einem Polizeistaat und damit zu einem einzigen großen Gefängnis gemacht“, sagt Ghanouchi.

Internationale Menschenrechtsorganisationen belegen die Vorwürfe. „Meine Familie gehört zu denen, die nicht ausreisen dürfen“, erzählt Nourredine Aouididi. Der Journalist der arabischsprachigen Nachrichtenagentur Qods-Presse in London beendete am Mittwoch nach 37 Tagen einen Hungerstreik. Er hatte damit vergeblich zu erzwingen versucht, dass seine Schwester, sein Bruder und seine Mutter einen Pass bekommen.

Vor allem Aouididis Schwester Radhia machte mehrmals mit der Polizei Bekanntschaft, nicht nur wegen der journalistischen Tätigkeit ihres Bruders, sondern auch wegen ihres in Paris lebenden Ehemannes. Er gehört nämlich zu den Annahdha-Exilanten. 1998 wurde Radhia zu drei Jahren Haft verurteilt. Mittlerweile befindet sie sich auf freiem Fuß, muss sich allerdings täglich auf dem Polizeikommissariat melden. Nourredine Aouididi selbst hat sein Land aus Angst vor der Polizei seit 1990 nicht mehr betreten. REINER WANDLER