Ich bin ein typischer Berliner!

Zander und Nichelmann zeigen die Stadt als Porträt ihrer Bewohner in der Brotfabrik

Schon 1903 hat Georg Simmel dem Großstädter Blasiertheit, Reserviertheit und Aversion als typische Form seiner psychischen Verfassung attestiert. Heutzutage dürfte sich daran nicht viel geändert haben. Der Großstadtmensch hetzt an seinesgleichen vorbei – keine Zeit und Lust und einfach auch unmöglich, den anderen als Individuum wahrzunehmen.

Doch zwei Berliner zogen zwischen 1997 und 1999 mit einer Plattenkamera quer durch die Stadt und baten wildfremde Menschen um einen Augenblick: Mirko Zander (29) und Matthias Nichelmann (32) studierten Kommunikationsdesign an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft und fotografierten für ihre Diplomarbeit 600 Berliner. „In Charlottenburg fanden wir die offensten Menschen“, erklärt Zander. „In Marzahn trafen wir öfters auf Skepsis und Distanz“, sagt Nichelmann.

In der Brotfabrik zeigen sie nun 170 Kontaktabzüge im Originalformat, nur wenig größer als eine Spielkarte. Wer die Minibilder genauer betrachten will, muss ganz dicht an sie herantreten. Die Titel zu den einzelnen Porträts kann man sich allerdings nur mittels Faltblatt mühevoll zusammenreimen oder in einem ausgelegten Bildband nachschlagen. Und überhaupt: Eigentlich sind die Angaben zum Stadtbezirk, Alter und Beruf der Abgelichteten nicht vonnöten. Schließlich sind die Personen aus ihrem direkten Umfeld herausgelöst. Vor einem Leinentuch positioniert, verzichten Nichelmann/Zander bewusst auf lokale Attribute. Allein die Person interessiert – Mimik, Gestik, Habitus. Anspruch des Projektes ist es, eine fotografische Beschreibung Berlins durch Porträts der Bewohner zu schaffen. Wie aber sieht der typische Berliner aus, wenn es ihn denn gibt?

Vielleicht wie die alte Frau im einfachen Mantel mit den beiden Gehstöcken. Sie hat eine Plastiktüte dabei, die für Schmerztabletten wirbt. Wo und wie sie lebt, ist egal: Rentnerinnen gibt es in ganz Berlin zu sehen. Gleiches gilt für die Bauarbeiter, die Politesse oder den Müllmann. Auswechselbar auch die Herren im Anzug, die Damen im Kostüm. Die Kids sowieso. Irgendwie tragen alle die gleichen Klamotten und Umhängetaschen von H & M. Das Individuelle lässt sich nur schwer entdecken. Zottelige Bärte, Plastiktüten oder schmuddelige Jacken liefern am ehesten Anhaltspunkte für eine soziale Verortung der Porträtierten. Interessant ist, wie sie sich in Szene setzen. Wie stellt man die Beine? Wo die Hände lassen? Die einen verstecken sie hinterm Rücken, viele stecken sie in die Hosentaschen, und nur ganz wenige haben sie vor der Brust verschränkt.

Ja, wie sieht er nun aus, der typische Berliner? „Den kann man nicht in nur einem Bild entdecken“, so Mirko Zander, „ein Bild der Berliner ergibt sich in der Gesamtheit der Serie.“ Und die lehrt vor allem eins: Der typische Berliner von heute sieht so aus wie du und ich. ANDREAS HERGETH

Bis 2. 7., Mi. – So. 16 – 21 Uhr, Galerie in der Brotfabrik, Prenzlauer Promenade 3