Der dialektische Kniff

Die taz lud den Soziologen Pierre Bourdieu aufs Podium der Humboldt-Uni. Der nutzte seine Popularität, um einer führungslosen Linken eine Neuorientierung ohne Führerfigur zu verordnen

von JÖRG SUNDERMEIER

Der, dessentwegen sich die Leute im Audimax der Humbodlt-Universität zusammendrängten, saß bescheiden auf dem Podium: Pierre Bourdieu, französischer Starintellektueller, der sich nach Jahren der viel beachteten Kritik am System nun in die Initiative gewagt hatte und mit der Charta 2000 ein Manifest publiziert hat, das abseits aller politischen Fehden zum gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus aufruft.

Nicht dass das nicht viele wünschen oder sogar zu tun versuchen. Doch Pierre Bourdieu begnügt sich nicht einfach mit einer mahnenden Geste. Er untermauert seinen Aufruf mit der Gründung einer tatsächlichen Sammlungsbewegung, der sich schon einige tausend nicht eben unprominente Leute angeschlossen haben.

Auch dieser Auftritt – am Sonntag folgte ein weiterer in der Schaubühne – ist als Teil seiner Arbeit zu verstehen. Er ist quasi auf Tournee. Bourdieu bedient sich dabei eines dialektischen Kniffs: die eigene Popularität in einer politisch wie ideologisch führerlosen Linken auszunutzen, um die Linke zu einer Neuorientierung hin zu bewegen, die ebendiese Führerfigur genau nicht benötigt.

Entsprechend zielte sein Vortrag auch nur bedingt auf ein avanciertes und mit der Geschichte der Linken vertrautes Publikum. Dass die so genannte Entpolitisierung der Jugend nicht deren Schuld sei, sondern sich aus der „entpolitisierten Politik“ selbst nähre, ist ebenso bekannt wie die These, der Kapitalismus habe sich seit dem Ende des Kalten Kriegs so sehr verselbstständigt, dass selbst die Kapitalisten nicht mehr Täter seien, sondern Opfer eines Systems. Gegen diese totale Gleichschaltung vor den Kapitalgesetzen gelte es nun neue Formen der Systemanalyse zu finden, um ein Handeln jenseits des realsozialistischen Denkens zu ermöglichen, das die Profitlogik mit umgekehrten Vorzeichen fortzuschreiben versucht habe.

Damit ist Bourdieu so weit wie Micha Brumlik, der vor einigen Jahren versuchte, das böse K-Wort Kommunismus erneut in die innergrüne Ideologiedebatte zu tragen. Doch Bourdieus Vorschlag ist breiter angelegt.

Genau hier setzte allerdings die Kritik von taz-Redakteurin Bettina Gaus an: Ob es denn überhaupt noch eine gemeinsame „Überschrift“ gebe, unter der sich Linke sammeln ließen, fragte sie. Und ob der bourdieusche Ansatz nicht zu kurz greife, wenn er simpel auf Dialog setze – ohne dass er und die Seinen vorher wenigstens eine Art Thesenpapier unterbreiten würden.

In dieselbe Kerbe schlug auch Claus Leggewie, dem die ganze den Saal beherrschende „linke (wenngleich sehr brave) Atmosphäre“ stank: Ob jetzt wieder 68 sei, wollte Leggewie wissen. Ob man man jetzt aufrufen solle, Springer zu enteignen. Und sei es nicht überhaupt so, dass Bourdieu lediglich vermieden habe, „Sozialismus“ zu sagen? Womit Leggewie in gewisser Weise Recht hatte, allein es machte seine Kritik nicht stärker.

Denn an der Person und der Argumentation des IG-Medien-Chefs Detlef Hensche konnte man sehen, wonach die Linke dürstet: Der einzige „Praktiker“ auf der Bühne fühlte sich einerseits verlassen von „seinen“ Parteien – den Grünen und der SPD, die den DGB in das Bündnis für Arbeit hineinzwingen – und stellte zugleich klar, dass für einen noch so verhaltenen Protest gegen das Bündnis, wie ihn derzeit die ÖTV versuche, sich keine Solidarität in der Öffentlichkeit finden lasse. Weil es keine gemeinsame Argumentationsgrundlage mehr gebe.

Insofern war es dann doch, trotz aller organisatorischen Mängel, trotz der völligen Fixierung auf Europa und trotz der ermüdenden, weitschweifigen Redeweise Bourdieus ein erhellender Abend: Über das Wie wird noch zu reden sein, doch was die Charta 2000 erreichen will, wird in jedem Fall dringend benötigt.