Otto Schily plötzlich lieb

Der Innenminister präsentiert sich überraschend als Wortführer einer aktiven Einwanderungspolitik. Er fordert eine tabulose Diskussion und will eine Sachverständigen-Kommission einrichten

aus Berlin PATRIK SCHWARZ

Der Hausherr hat am Wochenende die wohl dramatischste Kehrtwende seiner Amtszeit vollzogen – doch auf der Website des Bundesinnenministeriums hat man davon noch nichts mitbekommen. Die elektronische Suchmaschine spuckt zum Stichwort „Einwanderungsgesetz“ just jene Positionen aus, von denen Innenminister Otto Schily (SPD) sich in den Pfingsttagen verabschiedet hat: Man habe in „Deutschland derzeit keinen zusätzlichen Zuwanderungsbedarf“, verkündete der Minister vor gut einem Jahr im Bundesrat, „freie Kapazitäten für einen weiteren wirtschaftlich motivierten Zuzug sind deshalb einfach nicht vorhanden.“ Ein „irgendwie geartetes Einwanderungsgesetz“ mache „kaum Sinn“.

Der neue Otto Schily dagegen präsentiert sich jetzt in einem Spiegel-Interview als Wortführer einer aktiven Einwanderungspolitik. Bis Mitte nächsten Jahres sollen Pläne für eine organisatorische, juristische und politische Regelung von Zuwanderung auf dem Tisch liegen. „Praktische Lösungsvorschläge“ will der Minister sehen und keine Rücksicht auf alte Strukturen gestatten, denn „Ziel muss der Abbau der Bürokratie und das Auslichten des Vorschriftendschungels sein“. Selbst das Tabu eines Einwanderungsgesetzes könne durchbrochen werden, verkündete der Minister – mit ausdrücklicher Zustimmung des Bundeskanzlers, der noch vor kurzem entsprechende Vorhaben für die laufende Legislaturperiode ausgeschlossen hatte.

Bewusst spricht Schily von „Steuerung“ der Zuwanderung und meint damit auch deren Begrenzung. Trotzdem bedeuten seine Vorschläge den Einstieg in eine Gesellschaft, in der Einwanderung politisch anerkannt und staatlich abgesichert ist.

Motor dieses vielleicht bedeutendsten Reformvorhabens der rot-grünen Koalition soll ausgerechnet eine „überparteiliche Sachverständigen-Kommission“ sein – obwohl Kommissionen in der Politik oft als das sicherste Mittel gelten, ein ungeliebtes Thema zu beerdigen. Diesmal allerdings kann sich das Gremium der Unterstützung von ganz oben sicher sein. Seit dem Erfolg seiner „Green Card“-Idee hat sich auch bei Gerhard Schröder die Angst gelegt, Migration sei ein Verliererthema.

Schily und Schröder ist es offenbar ernst mit der Reform. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Absicht des Ministers, die Kommission mit allem auszustatten, was sie für eine erfolgreiche Arbeit brauchen wird: neben dem klaren Zeitrahmen (bis Mitte 2001) eine klug besetzte Spitze (im Gespräch ist Altbundespräsident Roman Herzog) und die Freiheit, kühne Konzepte zu entwickeln.

„Der Horizont sollte nicht durch irgendwelche Tabus eingeengt sein“, umreißt Schily den Auftrag an die Kommission, und wie um sie zur Radikalität zu ermuntern, hat der Minister ein paar Tabus gleich selber abgeräumt. Die zentrale Behörde zur Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, so gab er zu verstehen, könne in ein Bundesamt für Einwanderung umgewidmet werden. Die geplante Aufwertung passt zu einem personalpolitischen Schachzug, mit dem Schily jüngst für Verwunderung gesorgt hatte: Er machte den ehrgeizigen Ex-Generalsekretär der Bayern-SPD, Albert Schmid, zum Chef der Behörde.

Bisher war die Einrichtung berüchtigt für ihre juristischen Repressalien gegen Flüchtlinge. Künftig könne das Amt Asylbewerbern raten, „auf einen aussichtslosen Asylantrag zu verzichten und stattdessen einen Einwanderungsantrag“ zu stellen. Am individuellen Asylrecht will Schily auch künftig nicht rütteln, doch ermunterte er die Kommission, über eine Verkürzung des Instanzenwegs nachzudenken.

Diskreter Charme der Schily-Vorschläge: Sie nehmen der Union den Wind aus den Segeln. Lautstark fordern CDU und CSU ein Gesamtkonzept für Einwanderung und Integration. Das werden sie jetzt wohl bekommen.