Die drei Löwen dressiert

Weil die Portugiesen sich mit überzeugendem Kick vom Image der torträgen Schönspieler befreien, holen sie selbst einen 0:2-Rückstand locker und lässig auf und gewinnen gegen England mit 3:2

aus EindhovenRONALD RENG

Kevin Keegan hielt sich an der Flasche fest. Nahezu die komplette zweite Halbzeit hindurch spielten seine Hände mit der Plastik-Wasserpulle, ständig drehte er den Deckel auf und zu. Manchmal nahm er einen Schluck, aber wirklich durstig konnte er nicht sein: Der halbe Liter wurde nicht leer. Drei Minuten vor Spielschluss ließ er die Flasche fallen und setzte sich auf die Ersatzbank. Es gab keinen Grund mehr, nervös zu sein. Trainer Keegan hatte die Niederlage akzeptiert.

Es mag zu früh sein, das 2:3 von Keegans Team gegen Portugal in eine Reihe zu stellen mit dem 2:3 der Three Lions im WM- Viertelfinale 1970 gegen Deutschland oder dem 1:2 gegen Argentinien bei der WM 86. Denn noch hat England die Möglichkeit, das Verlustgeschäft von Eindhoven auszugleichen. Aber die Niederlage im EM-Auftaktspiel nach schneller 2:0-Führung sah schon wieder verdammt englisch aus: welch ein glorreiche Niederlage.

David Beckham stand im Gang zur Umkleidekabine und sagte zu Keegan: „Was für ein Super-Spiel – wenn wir neutrale Beobachter gewesen wären.“ Keegan zitierte die Popgruppe Abba: „The winner takes it all.“ Aber vor allem sollte man das Match von Montagnacht als das nehmen, was es war: ein außergewöhnliches Stück Unterhaltung. Exzellentes Passspiel, hohes Tempo und atemberaubende Tore, zunächst von Paul Scholes und Steve McManaman, jeweils nach den berühmten krummen Flanken von Beckham – und das Beste stand noch bevor: Ein Tor schöner als das andere erzielten die Portugiesen, Luis Figo mit einem Schuss wie von Laser gesteuert, João Pinto per Trickkopfball, Nuno Gomes mit vergleichsweise schlichtem Schuss, allerdings nach einem grandiosen Pass des überragenden Spielmachers Rui Costa, den angeblich Bayern München umwirbt.

Es war eine Demonstration spektakulären und gleichzeitig effektiven Angriffsfußballs; und das ausgerechnet von den Portugiesen. Über Jahre ist dieses Team, das seit dem Gewinn der Junioren-Weltmeisterschaft 1989 und 91 zusammen älter wurde, in Schönheit gestorben. Regelmäßig endeten tolle Vorführungen ohne Torerfolg. „Das Talent war da, aber die Portugiesen haben es nie wirklich abgerufen“, sagte Keegan. Typisch war das Qualifikationsspiel zur WM 98 in Berlin, als sie die Deutschen vorführten und am Ende stand es nur 1:1. „Es ist lange her, dass wir ein 0:2 aufgeholt haben“, sagte Figo und gab zu: „Ich dachte nach dem Rückstand: Kassieren wir jetzt noch mehr Tore?“

Figo wertete die ungewohnte Kaltschnäuzigkeit als Beleg neuer Stärke. Sie werden jedoch weitere solche Abende bringen müssen, um die Skepsis zu vertreiben. So lange steht das 3:2 als Ausnahme von der Regel da. Wie Rui Costa, Figo und João Pinto im Mittelfeld ständig die Positionen tauschten, wie sie den Ball tanzen ließen, war berauschend. Nicht zu verstehen war an diesem Abend, warum Trainer Jupp Heynckes bei Benfica Lissabon den offenbar recht verspielten Pinto abgeben möchte. Keegan kam es vor, als wären seine Spieler Luft: „Sie haben den Ball durch uns durch gespielt. Und das hat uns weh getan.“ Die englische Defensive, angefangen mit Paul Ince im Mittelfeld, konnte den Bewegungen, auch den gedanklichen, der Portugiesen mit längerer Spieldauer immer weniger folgen; es mag ein Trost sein, dass solche Verwirrungen von den systemstarren Deutschen am Samstag in Charleroi nicht zu erwarten sind.

Der Klassiker gegen den liebsten Feind ist für England nun quasi schon ein Spiel um alles oder nichts. „Spiele kommen nie größer als gegen Deutschland“, sagte Keegan, „da müssen wir die Bedeutung gar nicht erst großreden.“ Seine Sorge sollte sein, dass ausgerechnet seine Führungsspieler Schwierigkeiten haben. Torwart David Seaman (36) flog mehrmals an Flanken vorbei, Abwehrchef Tony Adams (33) erinnerte daran, wie er zum Spitznamen „der Esel“ kam, und Spielführer Alan Shearer (29) blieb ohne Bindung zum Spiel. Seine Sturmpartnerschaft mit Michael Owen funktioniert einfach nicht. Doch einer wie Kevin Keegan verliert deswegen noch lange nicht den Spaß.

Die Schau muss weitergehen, und Keegan, der Entertainer der Nation, war schon zwanzig Minuten nach dem Schlusspfiff wieder in Hochform. Auf die Bitte eines deutschen Radioreporters beantwortete Keegan, der einst für den Hamburger SV spielte, eine Frage nach dem nächsten Gegner auf deutsch: „Die Deutschen sind wie immer: arbeiten hart“, sagte er und fragte seinerseits den Reporter: „Haben Sie mich verstanden? Gut. Ich mich nämlich nicht.“ Die nächste Frage kam von einem Portugiesen: Ob Keegan sagen könne, dass Portugal ins Finale komme. „Auf portugiesisch?“, fragte Keegan.

Portugal: Baia, Couto, Teixeira, Xavier, Costa, Vidigal, Gomes (90., Capucho), Figo, Costa (85., Severo), Bento, Pinto (76., Conceicao)England: Seaman, Neville, Campbell, Adams (82., Keown), Neville, Beckham, Owen (46., Heskey) , Scholes, McManaman (58., Wise), Ince, ShearerZuschauer: 33.000; Tore: 0:1 Paul Scholes (3.) 0:2 Steve McManaman (18.) 1:2 Luis Figo (22.) 2:2 João Pinto (37.) 3:2 Nuno Gomes (59.)