Mit belgischen Tugenden

Deutschland ist anpassungsfähig in einer Sinfonie der Symbolik: Unter dem Einfluss archaischer Gastgebermentalität rettet sich die Ribbeck-Elf zum 1:1 gegen technisch überlegene Rumänen

aus LüttichBERND MÜLLENDER

Um das erfolgreiche 1:1 der Deutschen gegen Rumänien zu erklären, muss man etwas ausholen. Und sich dem Co-Gastgeber zuwenden, dem Belgier. Dessen Lebensphilosophie heißt: Nichts wissen, aber alles erklären. Nichts können, aber alles versuchen. Hauptsache, gut gemeint und von Herzen freundlich. Sich durchs Leben improvisieren. Demütig, leidensfähig sein, nie den Optimismus verlieren. So war auch der Deutsche in Lüttich. Verirrt im Wald. Keine Ahnung, wo es langgeht. Aber Wanderern den Weg zum schönsten Aussichtspunkt im Grünen weisen.

Orientierungsprobleme hatten im verwinkelten Talkessel an der Maas so ziemlich alle Beteiligten, nicht nur auf dem Platz der grotesk insdisponierte Thomas Linke. Oder der Sozialfall Lothar Matthäus, der trotz Standfußball erschöpft ausgewechselt wurde („Ich war müde“). Oder Christian Ziege, dem zugemutet wurde, eine ganze Halbzeit in der prallen Abendsonne zu spielen. Oder der sehbehinderte Schiedsrichter, der Nowotnys tölperte Elfmeter-Sense gegen Ilie als Einziger im Stadion übersah. Oder der rumänische Versager Moldovan, der zweimal binnen Sekunden den Ball nicht ins leere deutsche Tor bekam und sich dann „bei allen sehr entschuldigen“ wollte. Orientierungsprobleme überall. So wie Jens Nowotnys Partnerin Michaela mit ihrem Baby Kim (0,5) auf dem Arm: Anderthalb Stunden nach dem Spiel schwitzten sich beide über staubige Pfade durch eine abgelegenene Industriebrache. Wo ist der Wagen? Wo geht es lang? Mit belgischem Optimismus ging es weiter: Irgendwo wird er schon sein, und wenn der eigene Wagen der Letzte ist, der übrig bleibt vom Autoknäuel am Horizont.

Währenddessen verfuhr sich der deutsche Mannschaftsbus am Quai Vercour und stand samt seiner Ladung ausgepumpter Kicker staunend vor den Absperrungen. Der Bus drehte, um anderswo neue Sackgassen zu finden, umherirrend in labyrinthösen Endlosschleifen. Belgien halt. Königreich Chaos. Wo Desorganisation Staatsgrundsatz ist und Funktionsprinzip: Bloß nichts planen, es klappt eh nicht. Bestes Beispiel: die omnipräsenten Lütticher Hinweisschilder „VIP-Parking“ mit einem Doppelpfeil, der zwei Spitzen hatte, einen nach rechts, einen nach links. Klingt gaga, ist aber gut: Denn so ist er universell einsetzbar, wenn man nur genügend Klebeband zur Hand hat.

Und so geschah es Lüttich-weit: An jeder Kreuzung war ein Pfeil zugeklebt. Der Deutsche hätte vorher organisiert: Wie viel Rechtsabbiegeschilder brauchen wir, wie viele für links? Respektive: Wer spielt rechts, kommt raffiniert über links in welcher Situation? Wie wir wissen, sind Taktik und Spielsystem die Sache von Richtungssucher Erich Ribbeck nicht. Er denkt eben belgisch: Wenn du etwas groß planst, wird es eh nix. Also lassen wir es gleich, versuchen wir es belgisch. Nichts können, aber wenigstens alles versuchen. Unterschied nur: Früher haben DFB-Teams ähnlich unterbelichtet gespielt und trotzdem sogar gewonnen.

Die Deutschen sind technisch gleich minderbemittelt geblieben, aber die Gegner haben gelernt aufzupassen und sich Ansätze alter deutscher Tugenden zugelegt: Kondition, Wille, Energie. Bloß nicht übermütig werden. Ein 1:1 ein 1:1 sein lassen. Auch als „technisch starke Latin-Footballer“, wie Rumäniens Trainer Emerich Jenei sein Team nannte. Der bescheidene Ribbeck also in der Rolle des belgisch-demütigen Underdog: „Man sollte bedenken, dass die Rumänen uns nicht in Grund und Boden gespielt haben.“ Und er schafft schon feine belgische Logismen: „Wir wollten mit viel Ehrgeiz in dieses Spiel gehen, weil ein guter Start wichtig ist.“

Geradezu mit frankophilem Raffinement folgte der Satz: „Ich bin nicht zufrieden, aber froh.“ Sich notfalls demütigen lassen, wie in den ersten 20 Minuten, gehört dabei zum Prinzip. Belgisch auch das: Fehler machen, um sie mit Mühe auszubügeln. Unterlegen sein, aber nicht untergehen. Und daraus die Kraft des Schmerzes schöpfen. Bespöttelt werden, aber gegenhalten. Keiner weiß, warum es Belgien eigentlich gibt, aber es ist nicht kleinzukriegen. Verquer liefen nur ein paar Kritiker, so wie Markus Babbel: „Eine Spitzenmannschaft hätte uns heute abgeschossen.“

Auch Terrain und Spielweise waren wie einst: Die elf Aufrechten arbeiteten wie das majestätisch monströse Stahlwerk Cockerill Sambre, das letzte der Wallonie, direkt neben dem Lütticher Stadion. Unablässig dampfte und spuckte es auch am Pfingstmontag während der 90 Minuten aus seinen Riesenschloten. Mit dem Schlusspfiff war Feierabend im Werk. Der Dampf war raus. Danke Symbolik. Übrigens: Am VIP-Parkplatz selbst löste sich die Schildlogik recht überraschend auf. Nicht deutsch durch Zukleben beider Pfeilspitzen. Sondern belgisch: Beide blieben einfach. Sie zeigten ja sowieso jeweils gegen eine Mauer. Da wäre Klebeband Verschwendung. Das Prinzip minimalistischer Aufwand.

Was das für Samstag heißt? Gegen England könnte der definitive VIP-Parkplatz für die deutsche Elf erreicht sein. Sackgasse Charleroi? Immerhin, das ist auch Belgien. Die belgischste Stadt Belgiens sogar. Und das gibt Hoffnung. Nur Oliver Kahn hat es noch nicht verstanden. Seine Antwort, wie es weitergehen solle: „So nicht!“ Aber Kahn ist ja nur Parkplatzwächter. Nein, genau so kann gut reichen. Irgendwie halt. Und immer weiter. C’est la vie belgique.