Die Rückkehr der Nomaden

DAS SCHLAGLOCH
von KERSTIN DECKER

Die wirklich wichtigen Dinge im Leben geschehen ohne Vorbereitung. Zum Beispiel spüren, dass man längst veraltet ist. Ein Mensch von gestern. Eben noch war man heutigstes Heute – und schon ist man Vergangenheit. Atmende Vergangenheit zu sein, so was ist hart. Manchmal liegt nur ein Tag dazwischen.

An diesem Tag sagen einem Menschen, die ungefähr so alt sind wie man selbst, dass sie schon zwanzigmal umgezogen sind. Zwanzigmal! Was antworten? Dass man eigentlich noch nie wirklich ... Unmöglich! Und wenn sie dann weiter feststellen, dass Umziehen ein essentielles Merkmal der Reifung der Persönlichkeit ist. Dass es ohnehin nur zwei Hauptgruppen von Menschen gäbe. Die Sesshaften und die Umzieher. „Sesshaft“. Wie sich das anhört im Munde einer professionellen Umzieherin. Die Definition des Kleinbürgers hat sich geändert. Kleinbürger ist, wer einen festen Wohnsitz hat und sich weigert, ihn zu verlassen. So weit ist es gekommen.

Aber alle, wirklich alle sind auf der Seite der Umzieher. Erst recht die Zeit. Oder die Politik, was ja ungefähr dasselbe ist. Sie fordert immer, dass wir mobil werden müssten. Zukunftsfähig, also bereit zum Umzug! Lebenslänglich. Manchmal fällt einem da in letzter Minute Heidegger ein. Heidegger geht ungefähr so: Der Mensch ist Mensch, solange er versteht zu wohnen! Also da zu bleiben, wo er ist. Viele haben schon den Versuch gemacht, den Menschen zu definieren. Mensch ist, wer denkt. Mensch ist, wer sich für Politik interessiert. Mensch ist, wer arbeitet. Heidegger würde sagen: Mensch – das ist das wohnende Lebewesen. Der Philosoph hat Recht. Wohnen können nur wir! – Umziehen auch, unterbrach an dieser Stelle gelangweilt die Frau, die schon zwanzig Wohnungsschlüssel besaß.

Las man nicht auch gerade bei Houellebecq von Zeitgenossen, die in der Lage sind, ihre Wohnung binnen zwei Stunden für immer zu verlassen? So leben viele von uns also, als würden sie gleich verhaftet. Oder ausgewiesen. Menschen auf der Höhe der Zeit wohnen nicht mehr, sie übernachten. Wir haben es also mit einer Wiederkehr des Nomadentums auf höchstem zivilisatorischem Niveau zu tun. Schon wieder so eine Rückkehr des Frühen im Spätesten.

Eigentlich gab es bisher nur einen einzigen Grund für die Nichtteilnahme an der modernen innerstädtischen Völkerwanderung. Man konnte sagen, man hätte zu viele Bücher. Jedes Mal erschien dann ein milder Ausdruck des Mitleids auf den Gesichtern der anderen, aber zugleich so etwas wie Verständnis. Es ist ganz klar, wer Bücher hat, kann nicht umziehen. Es ist auch unmöglich, Bücher dazulassen. Denn es sind ja Bücher! Manche machen das trotzdem. Plötzlich liegt dann neben den Mülltonnen eine ganze Bibliothek. Das ist ein so seltsam verlorener, tief trauriger Anblick. Piatigorskis Lebenserinnerungen „Mein Cello und ich“ im Nieselregen neben der Mülltonne. In solchen Augenblicken meint man, die konservative Kulturkritik aller Zeitalter zu verstehen. Konservative Kulturkritik ist immer Kritik am Leichterwerden. Schon um 1800 dachten viele, das eigentliche Zeitalter der Kultur sei nun vorbei. Was jetzt noch kommen kann, ist nur Leichterwerden und Verfall. Da waren wir noch nicht einmal zu ahnen. Was die konservative Kulturkritik immer wusste und die Linke noch nie: dass der Mensch nicht einfach nur von heute ist.

Natürlich adoptiert man sofort die ganze ausgesetzte Bibliothek. Und wird immer schwerer dabei, immer unmoderner. Vielleicht, denkt man, trifft ihren Besitzer ja gar keine persönliche Schuld. Er ist einfach nur ein Modernisierungsteilnehmer. Menschen mit Bibliotheken sind der natürliche Gegenbegriff zum Nomaden. Natürlich liegt im Immerleichterwerden auch ein Risiko. Irgendwann sind wir vielleicht gar nicht mehr da. Einfach verdampft.

Arnold Gehlen sprach einmal von der Postmoderne als dem „Verdampfen aller Bestände“. Er hat noch nicht gewusst, dass wir selbst auch verdampfen können.

Überhaupt wird es höchste Zeit, in der Ära der neuen Leichtigkeit und des lebenslangen Umziehens ein paar Begriffe neu zu definieren. Zum Beispiel sagt man noch immer, wenn man Bewunderung für eine Sache zum Ausdruck bringen will, sie hätte Gewicht. Dagegen ist alles Leichte durchaus fragwürdig. Die Bezeichnung „geistiges Fliegengewicht“ etwa muss sogar als durchaus unfreundlich gelten. Überhaupt sind „Leichtgewichte“ aller Art noch immer Ausdruck einer gewissen Geringschätzung. Wir müssen das wirklich dringend umdefinieren. Denn was heißt denn, eine Sache hat Gewicht? Es bedeutet, sie ist völlig unbegabt zum Umziehen. Im höchsten Maße unflexibel. Kurz: Sie besitzt keine einzige moderne Tugend.

Aber es kommt noch etwas erschwerend hinzu. Alle Bücher, denen man in letzter Zeit in traditioneller Unbedachtsamkeit „Gewicht“ zusprach, waren Bücher gegen das Leichterwerden. Ja, sie wollten uns regelrecht Gewichte anhängen! Denken wir nur mal an Houellebecqs „Elementarteilchen“. Die Wahrheit über uns stehe darin, sagen manche. Und wie heißt sie? Wir wiegen nichts mehr! Alles zu leicht geworden, wir selbst, unsere Beziehungen, sogar der Sex. Mit Houellebecq: „Gefühle wie Liebe, Zärtlichkeit und Brüderlichkeit waren weitgehend verschwunden; in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen erwiesen sich seine Zeitgenossen sehr häufig als gleichgültig oder sogar grausam.“ Gehört nicht zur Definition der Liebe ein gewisses nichtmobiles, ja durchaus stationäres Moment? Etwas entschieden Antiumzüglerisches? Nun kam in der letzten Woche eine Nachricht, die geeignet sein könnte, Menschen mit Büchern zu retten. Stellen Sie sich vor, ihre ganze Bibliothek wiegt nur noch 627 Gramm! Bald könnten Sie genauso umziehen wie andere auch. Mit dem „Rocket eBook“. Der Anfang von Gutenbergs Ende, vermuten Kenner. Es soll so groß sein wie ein Taschenbuch, hat ein hoch auflösendes Display und fünfzig 400-Seiten-Romane passen hinein! In Amerika, dem Land des „Take it easy“, ist es schon Wirklichkeit. Da haben wir’s wieder, das Leichte als Programm! Allein im März wurde die neue Stephen-King-Novelle 500.000-mal ausschließlich online bezogen. Nun gut, bei Stephen King ist das vielleicht eine richtig gute Idee. Haben nicht auch wir Bücher, die wir am liebsten löschen würden?

Bibliophile aller Länder, was sollen wir tun? Unsere Bibliotheken wegwerfen und umziehen? Aber was, wenn die Allzuleichtgewordenen plötzlich wieder ihre Gewichte spüren wollen? Irgendeine Verbindung zur Erde? Erdenschwere heißt es, nicht Erdenleichte. Nein, noch weiß keiner genau, wie leicht ein Mensch wirklich werden kann.

Am Wochenende war Bourdieu, der Soziologe, in Berlin. Er möchte gern eine antiliberalistische Intellektuellen-Internationale gründen. Sozusagen einen geistigen Kampfbund gegen das Verschwinden der Welt. Ist das ein Weg?

Oder sollten wir völlig unkämpferische Melancholiker werden? Melancholiker sind von Natur aus schwer. Es sind die Schweren im Geiste. Die Schwermütigen eben. Die mit dem Anti-Umzügler-Intellekt. Machen wir uns also ganz schwer, bleiben zu Hause und bekennen uns zu unserer nichtmobilen Bibliothek!

Hinweise:Heidegger hat Recht: Der Mensch – das ist das wohnende LebewesenViele von uns leben, als würden sie gleich verhaftet. Oder ausgewiesen.