Umgarnen der Tonmystiker

■ Gitta Barthel tanzte beim Kirchenmusikfestival in der Stephanikirche John Cage und Karlheinz Stockhausen

Läppische zwei Seelen schlugen, ach, in Doktor Faustens Brust. Mindestens fünfzehn Seelen hingegen haben sich in Gitta Barthels Armen niedergelassen, in Schulter, Ellbogen, in Bi-, Tri- und all den anderen -zepsen und wenigstens zwei in jedem Handgelenk. Diese Armseelchen gehen mal abenteuerlustig auf Erkundungsflug, mal verkrümeln sie sich schneckengleich, kommen aber meist gut miteinander klar – Zerrissenheit ist das Thema hier nicht. Und nach rund 60 Minuten Seharbeit erkennt der Besucher, dass jene zwei bescheidenen Steckchen mit fünf Fingern, die unsereins zum Zähneputzen und Tippen gebraucht, von allem und jedem Wissen: von Zögerlichkeit, Sehnsucht, Gelassenheit, hehrem Streben ... Einfacher formuliert: Im Rahmen des vierzehntägigen Kirchenmusikfests 2000 (wir berichteten) hat sich wenigstens/immerhin ein Mensch für eine neue Verbindung von Kirche und Kultur entschlossen. Dieser eine Mensch heißt Katja Zerbst, ist Organistin in Oberneuland und lud Gitta Barthel ein, zu aleatorischer, für Orgel umbearbeiteter Musik von John Cage und Karlheinz Stockhausen zu tanzen: ganz allein, in der riesigen, schmucklosen Stephani-Kirche, auf glänzendem Parkett von fußballfeldigen Dimensionen halb verloren, halb erkundungsfreudig, bis hinauf zu Empore und Kanzel. Nur der Altar blieb beinahe unangetastet – wäre da nicht ein Apfel.

Seit ihrem Austritt aus Susanne Linkes Ensemble 1996 ist Gitta Barthel eine der Schlüsselfiguren von Bremens freier Tanzszene. Dieses Schaffen jenseits institutioneller Verankerung ermuntert zwangsläufig zu gewagten Kooperationen und der Eroberung neuer Räume und Themen. Mal vertanzt Gitta Barthel im Fockemuseum Designobjekte von Philippe Starck, mal für konservatives Glocke-Pub-likum Ravels Bolero. Jetzt also eine Kirche. Wegen den schlechten Sichtverhältnissen auf den hinteren Kirchenbänken, bot sich eine gewisse Konzentrierung auf die Armapparatur an, quasi aus trivialem Grund. Allerdings passt diese Beschränkung bestens zur Musik. Die ist meist meditativ. Berufswürfler und Zen-Großmeister John Cage lässt in seinen drei für Klavier gedachten Stücken „A room“, „In a Landscape“ und „Dream“ eine herzerweichend-schlichte Melodie durch einfache Dreiklangsbrechungen umgarnen: einlullend wie minimal music. Und auch in den „Tierkreiszeichen“, die der Mystiker Stockhausen zwischen seinen Inori-“Anbetungen“ und einem Mysterienspiel für die feingeistigen Bewohner des fiktiven Planeten Sirius komponierte, werden kurze Momente geballter, atonaler Schroffheit schnell wieder ausgeglichen durch die erhabene Einfalt von geruhsamer Einstimmigkeit.

Bewegt sich eine Melodie eher schraubenförmig vorwärts, schrauben sich auch Gitta Barthels Arme, als wäre es der musikalische Impuls, der die Glieder antreibt wie Benzin das Auto. „Manchmal lasse ich den Ton in den Körper hineinkriechen.“ Manchmal, aber nicht immer. „Dann wiederum befreit sich der Körper von der Musik, reibt sich an ihr.“ Diese Freiheit, die sich Gitta Bar-thel gegenüber der musikalischen Vorlage ausbedingt, erwünscht sie sich auch für die Zuschauer. Deshalb freut es sie, wenn ein Zuschauer an einen Falkner mit Raubvogel auf der Schulter denkt, während sie mit zärtlicher Vorsicht einen Stock auf der Schulter balanciert. Und die Texte zu Stockhausens Stück bekommt das Publikum erst nach der Vorführung in die Hand gedrückt, um nicht in Festlegungen zu ersti-cken. So kommt es, dass sich die Tänzerin den Apfel vom Altar greift, herzhaft zubeißt und beim Betrachter neben der leidigen Sache mit Eva und der Schlange noch viele andere Assoziationen aufblitzen: alles sehr luftig, sehr offen. bk