Manfred Cordes hat mit seinem Ensemble „Weser-Renaissance“ tief in der Musikgeschichte gebuddelt. Dabei hat er Hansestadt-Stücke ausgegraben. Er hält das für eine Voraussetzung, überhaupt Zukunft gestalten zu können

Die Festmusik der alten Hansestädte ist ein unbekanntes Repertoire. Das Ensemble Weser-Renaissance stellt sie jetzt in fünf Konzerten vor. Was sich dahinter verbirgt und wie spannend es für die MusikfreundInnen werden könnte, erzählte Manfred Cordes, der Leiter des mit zahlreichen Preisen ausgestatteten Ensembles, der taz .

taz: Herr Cordes, wo findet man heute noch Musik der Hansestädte?

Manfred Cordes: Es ist ja nicht alles unbekannt, denken Sie an die Komponisten Buxtehude, Tunder und Praetorius. 50 Prozent sind greifbar in den alten Gesamtausgaben. Der Rest muss beschafft werden: über Mikrofilme. Die Musik, die wir hier aufführen, ist nach meiner Einschätzung „the best of ...“.

Welche Übersetzungsarbeiten muss man für eine Aufführung leisten?

Der Bremer Musikwissenschaftler Oliver Rosteck hat mir da sehr geholfen, er hat seine Dissertation über diese Musik geschrieben. Und vieles habe ich auch selbst gemacht. Es sind alles Stimmen, aus denen man eine Partitur schreiben muss und erst dann merkt, um welche Qualität es sich handelt. Dann kommt die Auswahl für das konkrete Konzertkonzept. Das ist nicht so einfach, weil wir so viele kleine Stückchen, weltliche und geistliche, zu verschiedenen Anlässen haben. Auch kann man nicht mehr alle Texte bringen. Manche sind frauenfeindlich, andere handeln von Unterwürfigkeit – vieles geht einfach nicht mehr. Die beste Musik ist immer Klage, das war schon immer so. Ich versuche, es sehr farbig zu machen, vor allem im Wechsel von Besetzuungen.

Und die interpretatorische Umsetzung? Es steht ja nichts drin in den Noten.

Im Zentrum steht der Text mit seinem Affekt. Den gilt es aufzuspüren und dem heutigen Hörer zu vermitteln.

Die Musik hatte ja verschiedene Funktionen: Festmusik, Kirchenmusik, Tafelmusik, Tanzmusik. Was weiß man denn über die Auftraggeber? Gab es Auseinandersetzungen mit ihnen?

Wenig. Es gab feste Ratsmusiker, es gab feste Kirchenmusiker. Wenn ein Hochzeitspaar Musik bestellte, musste es zuerst die Ratsmusiker fragen. Aber es gab natürlich billigere Angebote, es gab die „Rollbrüder“, Musiker, die auf einer Lis-te standen und auf Abruf „Mucken“ spielten. Wenn aber rauskam, dass die Ratsmusiker übergangen wurden, gab's Ärger. Prinzipiell gilt: Musik entsteht da, wo Geld ist.

In Ihrem Projekt sind Bremen, Hamburg, Lüneburg, Lübeck, Brügge, Antwerpen, Stralsund, Stettin und Königsberg genannt. Wo sind die Unterschiede?

Stilistisch natürlich und auch nach der Ausstattung. Wir fangen um 1500 im flämischen Bereich an mit Jakob Obrecht. Dessen Musik ist von einer Dichte und Kunstfertigkeit, die lange nicht mehr erreicht wurde. Das gilt auch für Orlando di Lasso, beide, meine „favorites“. Um 1600 schlägt sich der Profit aus dem Handel in Kultur um. Mit der Musik von Dietrich Buxtehude um 1700 bieten wir zweihundert Jahre Musikgeschichte.

Sie haben einmal in einem Interview gesagt, das Interesse an Alter Musik sei die Sehnsucht nach der verloren gegangenen Ganzheitlichkeit. Oder auch: die Lebendigeit ergebe sich aus musikologischer Richtigkeit. Das Erste möchte ich kritisieren, das Zweite in Frage stellen. Beteiligen Sie sich nicht an einer Illusion?

Nein. Ich möchte nicht fliehen. Ich betrachte die Beschäftigung mit historischer Kunst als eine wichtige Voraussetzung, um die Zukunft zu gestalten. Ich nenne nur ein Beispiel: die extreme ich-bezogene Expression in der Oper. Die alte Musik dagegen kann man nicht machen, wenn man nicht genauestens aufeinander hört. Und diesen Faden, mit dem es ja um ganz andere Werte – hier um kommunikative – geht, dürfen wir nicht abreißen lassen. Wir müssen weg vom Kosten-Nutzen-Denken.

Das spielte sich in der alten Musik noch mehr ab als heute: Wo Geld war, war Musik, wie Sie gerade eben sagten.

Aber die großen Künstler haben diese soziologischen Voraussetzungen immer übersprungen, ihre Musik spricht von einer Utopie des Zusammenlebens.

Fragen: Ute Schalz-Laurenze

Termine für die Konzerte in der Oberen Halle des Bremer Rathauses – 16. Juni: Norddeutsche Handelsstädte; 30. Juni: Die Hansekontore Flanderns; 28. Juli: Hamburgische Kirchenmusik; 4. August: „Abend-Music“ in St. Marien zu Lübeck; 18. August: Mare Balticum. Die Konzerte beginnen jeweils um 20 Uhr. Karten gibt's unter % 170232 oder 01805/101010