Psychedelischer Naturalismus

Erotische Filmküsse mit diskreter Band: Das dritte internationale Stummfilmfestival im Blow Up und im Podewil erinnert an die große Zeit der dänischen Stummfilmindustrie

Die Einführung neuer Medien hat schon immer die Kritik auf den Plan gerufen. Als der Tonfilm den Stummfilm zu ersetzen begann, protestierten nicht nur die Musiker, die die Filmaufführungen zu begleiten pflegten und nun die Arbeitslosigkeit vor Augen hatten. Man sah auch die Kultur gefährdet durch das neue Medium, das die Vorstellungskraft und Fantasietätigkeit des Zuschauers weit mehr okkupierte, als es der Stummfilm vermochte.

Wenn man nun beim 3. Internationalen Stummfilmfestival im Blow Up (das so schön im Hinterhof zwischen Polizei und Sportstudio liegt) und open air im Garten des Podewil Stummfilme sieht, ist alles ganz entspannt. Die Gedanken können frei herumschweifen, der Blick verweilt zwischendurch gern auf den Rändern der Bilder, man ruht sich aus beim Gucken.

Das diesjährige Stummfilmprogramm will an die große Zeit der dänischen Stummfilmindustrie erinnern, die bis Ende der Zehnerjahre führend war. Zwischen 1900 und 1930 drehten die Dänen etwa 3.000 Stummfilme. 15 Prozent davon sind noch erhalten. Im dänischen Kino wurde nicht nur der Autoren- und Kriminalfilm, sondern auch der Science-Fiction-Film erfunden. Die dänischen Schauspieler kamen alle vom königlichen Theater, waren bestens ausgebildet und agierten im Geiste der naturalistischen Schule.

Asta Nielsen war der erste weibliche Filmstar der Welt, und „der dänische Film verdankte seinen wirtschaftlichen Aufstieg der Einführung verschiedener Zugmittel, die er dem amerikanischen Film vorwegnahm: Das Luxusmilieu, das im zeitgenössischen amerikanischen Film nur im polemischen Kontrast zum Leben der Armen vorkam, wählten die Dänen zum Schauplatz mondäner Dramen. Der erotische Dreieckskonflikt wurde einer ihrer Spezialitäten [. . .]. Der Vamp war zuerst im dänischen Film zu Hause. Der Kuss, bisher nur ein konventionelles Zeichen, gewann eine für die Zeit unerhörte sinnliche Deutlichkeit.“

So heißt es in der „Geschichte des Films“ von Ulrich Gregor und Enno Patalas über August Bloms’ „Ballettänzerin“ von 1911, in dem die wunderbare Asta Nielsen ein junges Mädchen spielt, dessen Liebe erst nach allerlei Abenteuern Erfüllung findet. Auch in der Kameratechnik waren die Dänen führend; die Bilder waren gestochen scharf.

Manche Szenen der alten Kopien sind allerdings extrem milchig-verwaschen, was zu unbeabsichtigten psychedelischen Nebeneffekten führt. Die wiederum vertragen sich ganz gut mit der Livemusikbegleitung von Steven Garlings Dreimannband, die nicht in den Fehler verfällt (wie etwa die Berliner Band Mutter, die vor ein paar Jahren bei der Berlinale ein paar Buster-Keaton-Filme untermalte), sich allzu sehr in den Vordergrund zu spielen. Garling und seine Freunde improvisieren stattdessen sehr behutsam mit ihren tausend Percussioninstrumenten und ab an auch einem Polyphon. Neben der „Ballettänzerin“ kann man auch die „Abgründe“ bewundern, mit denen Asta Nielsen ihren Durchbruch schaffte. Oder „Die vier Teufel“ von Robert Diesen und Alfred Lind aus dem Jahre 1911, wo manche Zimmer genauso aussehen wie Berliner Altbauwohnungen. Nur stehen heute andere Sachen darin, und die Männer tragen keine Zylinder mehr.

Wenn der Trapezartist in „Die vier Teufel“ dann den Todessprung ohne Netz wagt, muss man daran denken, dass die Schauspieler, die da noch so lebendig wirken, schon alle längst tot sind. DETLEF KUHLBRODT

3. Internationales Stummfilmfestival Berlin, heute und morgen ab 20 Uhr, Blow Up, Immanuelkirchstr. 14, Prenzlauer Berg und open air im Podewil, Klosterstr. 68–70, Mitte