Dichterlesung

Seht den Dichter, welch ein Licht erbringt in diese düstren Hallen. Mit welch byronesker Huld steht er stumm noch hinterm Pult, wirft die Locken in den Nacken, strafft die unrasierten Backen und streicht mit der Poetenhand leicht übers Wams, das ganz aus Samt.

Seht den Dichter, fahrig fischt er aus der braunen Reisetasche eine hochprozentge Flasche, an der er mehr als nötig nippt, gestärkt greift er zum Manuskript. Auch Dylan Thomas soff sich warm,woher wohl die Marotte kam. Der Dichter rülpst, prüft Reim und Form,nickt, ja, das sitzt, das wirkt enorm.

Seht den Dichter, wie er nun, und da gibt es kein Vertun, gleich Eluard die Braue hebt, als wollt’ er sagen: „Schweigt und seht, was die Musen in mir ballten, will ich Euch nicht vorenthalten.“ Doch eh er anhebt mit dem Stückchen,genehmigt er sich noch ein Schlückchenaus der braunen Reisetasche, wo verlässlich ruht die Flasche.

Seht den Dichter, feurig blickt er in die Reihen all der Damen, die nur seinetwegen kamen.Denn er entflammt in ihrer Brustjenes Feuer ganz bewusst, das rasend lodert, nie erlischt, und in der Seele höllisch zischt,jenen expressiven Brand, den Doktor Freud einst ES genannt.

Seht den Dichter, wütend tritt er Silben schleudernd virtuos grammatisch jetzt den Furor los.Stabreimt, wortmetzt, würgt Metaphernwie Lord Kitcher einst die Kaffern.Adverbien fallen, Syntax röchelt, das Pronomen wird geköchelt. Und muckt da noch ein Partizip, gleich setzt es einen grausgen Hieb. Bald liegt der Sinn halbtot im Staub,bedeckt von Rilkes welkem Laub.Schnaufend hält der Dichter ein und pfeift sich noch ein Schnäpschen reinaus der braunen Reisetasche, wo verlässlich ruht die Flasche.

Seht den Dichter, hymnisch spricht er plötzlich Verse zart und kindlich, das Timbre flackert unergründlich, reiht Worte, die das Herz bewegen, sich quasi pflanzlich keimend regen. Es goethet, hölderlint und trakelt, aus Mutter Erde wird orakelt. Herr Benn dreht sich im Grabe um,doch unser Dichter ward nicht stumm.Ganz wie die Fuge von Celan, wonach der sich das Leben nahm, dröhnt aus ihm schwer das Weltgericht,gen Ende neigt sich sein Gedicht. „Gevatter Tod“, ruft er mit Schmiss, „mag Meister sein, mich kriegt er nicht.Denn ist das Fleisch auch sehr vergänglich, so bleibt doch ewig wertbeständig der Geist, der stets vom Schnaps umnebelt, das Weltall aus den Angeln hebelt.“

Seht den Dichter, nichts mehr spricht er.Das Haar hängt wirr in seiner Stirn, zäh rinnt der Schweiß ihm aus dem Hirn.Die Zunge klebt, ein trockner Lappen,unangenehm am hintren Rachen. Und beim Applaus, der um ihn brandet,kaum dass er bei dem Dichter landet, greift er indes zur Reisetasche, wo verlässlich ruht die Flasche. Nicht gerade höflich, eher schon wurstig,doch das Genie ist meistens durstig.

MICHAEL QUASTHOFF