„Exakte Zahlen wird man nie erfahren“

Jamie Shea verkaufte als Nato-Sprecher in Brüssel den Jugoslawienkrieg. Niemand ist perfekt, sagt er heute

taz: Für das 78-tägige Bombardement Jugoslawiens haben Sie als Nato-Sprecher den Begriff „air campaign“ etabliert. Setzt aber eine Luftschlacht nicht feindliche Flugzeuge voraus, die man bekämpft?

Jamie Shea: Wir haben nicht bloß bombardiert. Es gab Aufklärungsflüge, wir haben unsere Piloten aus feindlichem Territorium gerettet, und wir haben sogar 15 serbische MiGs abgeschossen. Deshalb ist der Begriff korrekt.

Aber er lenkt von den Bombardierungen ab.

Natürlich war er auch gewählt, um zu verdeutlichen, dass wir keinen Krieg gegen die Zivilbevölkerung führten, sondern sehr genau unsere Ziele aussuchten.

Sie haben immer die Bombardierung ziviler Ziele bestritten. Natürlich konnten Sie nicht direkt sagen, es würden nur militärische Ziele angegriffen – das sind das serbische Fernsehen, Autofabriken und Ölraffinerien ja nicht unbedingt.

Jedes Ziel war ein militärisches oder stand in direkter Verbindung zur Vertreibungspolitik im Kosovo. Das serbische Fernsehen hat Angehörige anderer ethnischer Gruppen als Untermenschen dargestellt. So hat es eine Atmosphäre des Hasses geschaffen, welche die massiven Vertreibungen im Kosovo erst ermöglichte. Öl braucht man für Panzer, da ist der Zusammenhang klar. Dass die Zerstörung der Raffinerien auch Zivilisten traf, ist sicher. Aber man muss in so einem Fall zwischen Kosten und Nutzen abwägen.

In den Medien tauchte ständig der Begriff des Völkermords an den Kosovaren auf. Sie selbst haben die Lage im Kosovo mit den kambodschanischen „killing fields“ verglichen.

Ich habe nie von einem Genozid gesprochen, und ich habe auch nie diesen Vergleich gezogen, weil ich ihn für unzulässig und gefährlich halte. Was die Medien taten, konnte ich nicht kontrollieren. Auch von „killling fields“ habe ich nicht direkt gesprochen.

Das Medienbild eines Völkermordes ist doch offensichtlich falsch. Die Berichte der OSZE-Beobachter im Kosovo erwähnen vom Dezember 1998 bis zum Abzug Ende März 1999 88 zivile Opfer serbischer Übergriffe und 85 von der UÇK Ermordete.

Meines Wissens nach gab es mehr Opfer auf kosovarischer Seite. Aber ich will mich nicht so auf die genauen Zahlen fixieren. Die exakten Zahlen kann und wird man nie erfahren. Fest steht, dass es im Kosovo massive Menschenrechtsverletzungen gab, dass Menschen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert wurden. Heute ist das nicht perfekt, aber besser.

Ja, hat man aufmerksam die Nato-Pressekonferenzen verfolgt, könnte man fast glauben, sie hätte den Krieg gewonnen. Dabei hat die Nato gerade mal 14 serbische Panzer zerstört, und im Kosovo wird wieder diskriminiert und vertrieben – diesmal die serbische Minderheit.

Niemand weiß, wie viele serbische Panzer zerstört wurden: Wir nicht und auch Newsweek nicht, das diese Zahl in die Welt gesetzt haben. Und bloß weil der Kosovo heute nicht die Schweiz ist, war der Einsatz nicht falsch. Den Menschen geht es besser als vor einem Jahr, denn sie befinden sich auf dem Weg zu einem multiethnischen Kosovo. Unsere Güterabwägung war richtig.

Auch Ihr Witz bei einer Pressekonferenz, Milošević habe bestimmt noch nie eine der CNN-Übertragung aus dem Nato-Hauptquartier gesehen, da er die Botschaft offensichtlich nicht verstanden habe?

Zu der Zeit arbeitete ich jeden Tag 16 Stunden, ständig wollten 400 Journalisten Informationen. Es war eine ungeheure Anspannung. Ich wollte sie wohl so abbauen. Niemand ist perfekt.

INTERVIEW: KONRAD LISCHKA