Rache des Apparats

Wladimir Gusinski hat versucht, die russische Öffentlichkeit objektiv zu informieren. Jetzt ist der Medienmogul verhaftet worden – ohne Anklage

Er hat ein genauso rundes Gesicht, eine Knollennase und trägt gern randlose Brillen – und auch das Genie von Russlands neuestem Gewissensgefangenen Wladimir Gusinski (47) muss wohl dem von Bill Gates gleichen. Alle, die ihn kennen, bezeichnen den Medien-Oligarchen als einfach brillant.

Jewgeni Kisseljow, Moderator von Gusinskis Privatkanal NTV, erinnert sich, wie der Chef aus seiner Jugend erzählte. In den Hinterhöfen seines Moskauer Heimatvorortes zweifelhafter Reputation hätten ihm die halb betrunkenen Schachspieler immer nachgegrölt: „Judenfresse!“ Ja, da habe er sich eben mit den Fäusten verteidigt.

Später wurde Gusinski dann lange durch sein Imperium geschützt. Im Unterschied zu seinen Ko-Oligarchen startete er seine Media-Most ganz neu, mit jungen Journalisten, die so professionell arbeiten wollten wie ihre Kollegen im Westen. Deshalb wurde der Fernsehkanal NTV zum international angesehensten russischen Sender.

Wenn auch Gusinski seit Dienstagabend wie ein gefährlicher Gewalttäter im übelsten Moskauer Gefängnis in einer Art Vorbeugehaft sitzt, so zeichneten sich doch seine Medien immer durch ihre Stellungnahme gegen Gewalt aus. Während des Tschetschenienkrieges von 1994 bis 1996 hatte das russische Volk über NTV zum ersten Mal in seiner Geschichte Gelegenheit, einen Krieg ohne Beweihräucherungen zu verfolgen. Dies machte den Feldzug unpopulär und beschleunigte den Friedensschluss. Den Machthabern war diese Öffentlichkeit nie geheuer.

Die demokratische russische Öffentlichkeit bezweifelt nicht, dass es sich bei der Verhaftung Gusinskis um einen Akt der Einschüchterung und Rache seitens der Präsidialadministration handelt. Während seines Russlandaufenthaltes antwortete US-Präsident Clinton in einer Sendung der Media-Most-Rundfunkstation Echo Moskwy auf Hörerfragen – auch über die Pressefreiheit. Anschließend drohten dem Kreml nahe stehende Journalisten: „Nach der Clinton-Visite wird es für euch knüppeldick kommen.“ Und am gleichen Abend zeigte NTV in der satirischen Sendung „Kukly“ ein Gruppenspiel mit den Puppen Clintons und Putins, obwohl die Administration des russischen Präsidenten den Machern der Sendung nahe gelegt hatte, Putins Puppe auf ewig aus dem Äther zu ziehen.

Bis Redaktionsschluss lag noch keine offizielle Anklage gegen Gusinski vor. Präsident Putin erklärte in Madrid, er sei in die näheren Umstände des Falles nicht eingeweiht.

BARBARA KERNECK