Keine Sentimentalitäten mehr

Die Russlands Präsident unterstellte „besondere Nähe“ zu Deutschland sollte man nicht überbewerten. In seiner Außenpolitik zeigt sie sich nicht

von KLAUS-HELGE DONATH

„Unser Zar, der russische Deutsche“, taufte die Iswestija Wladimir Putin halb ironisch nach seiner Wahl zum neuen Kremlchef im März. Mit Wladimir Putin hat ein Mann den Thron bestiegen, der alle Eigenschaften verkörpert, die das Klischee des „Deutschen“ in der klassischen russischen Literatur beherrschen: Er ist willensstark, diszipliniert, fleißig, selbstbeherrscht, geht überlegt vor, ist brutal und gleichzeitig einfühlsam. Von den Russen wird dieser Typus belächelt und verehrt, verabscheut und gemocht.

In der Tat war für den Petersburger Geheimdienstler Putin der Osten Deutschlands das Fenster nach Europa. Als einziger Kremlherr nach Revolutionsführer Wladimir Lenin spricht Wladimir Putin auch Deutsch. Seine Kinder besuchten die deutsche Schule und werden heute von deutschen Lehrern unterrichtet. Doch sollte man die vermeintliche „Germanophilie“ nicht überbewerten. Seine außenpolitischen Aktivitäten in den letzten Monaten sprechen eine andere Sprache. Er küsste die Hand der englischen Königin, saß mit Tony Blair in der Oper, frühstückte mit Bill Clinton und sprach in Madrid und Italien vor, bevor Deutschland auf dem Programm stand.

Zugegeben, Berlin wäre nicht der passende Ort gewesen, um Moskaus Einflussmöglichkeiten auf die transatlantische Wetterlage zu überprüfen. Die europäischen Nachbarn hätten sich an Rapallo und russisch-deutsche Sonderwegsduseleien erinnert fühlen können. Dabei haben die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland seit dem Ende der Ära Kohl an Intensität erheblich verloren. Boris Jelzins Achse Paris-Bonn-Moskau rotiert nicht mehr. Im Gegenteil, die im Vergleich zu anderen europäischen Staaten deutlichere Kritik aus Paris und Berlin am Tschetschenienkrieg hat noch weiter zur Entfremdung beigetragen. Suchte Jelzin in Bonn einen Vermittler russischer Interessen gegenüber Europa, scheint diese Funktion in Putins Überlegungen keine Rolle mehr zu spielen. Dahinter steckt noch kein außenpolitisches Konzept. Aber auch in Moskau reift die Einsicht, Europa sei nunmehr der direkte Ansprechpartner. Es wäre auch denkbar, dass der seit Putin dick aufgetragene Großmachtanspruch es verbietet, auf die Assistenz von Mediatoren zurückzugreifen.

Außenpolitische Kreise in Russland räumen inzwischen ein, mit der Erweiterung der Europäischen Union laufe Russland eher Gefahr, an den Rand gedrängt und isoliert zu werden, als durch die Nato-Osterweiterung. Diese Erkenntnis hat indes noch nicht alle Zirkel erreicht. Der Feldzug im Kaukasus lieferte den Beweis, inwieweit die russische Außenpolitik immer noch Reflex der innenpolitischen Gemengelage ist.

Von der Zusammenarbeit mit dem Westen wird Putin nicht abkehren. Doch als Stütze des schwächelnden russischen Selbstwertgefühls dient seit einiger Zeit die Distanz zum Westen. Außenpolitisch manifestiert sich diese Unentschiedenheit in dem Anspruch, alle Vorteile der Eigenständigkeit zu bewahren, gleichzeitig an der Forderung nach uneingeschränkter Gleichberechtigung aber festzuhalten. Der Großmachtanspruch, der in keinem Verhältnis zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit steht, hindert Russland, international seinen neuen Platz zu bestimmen. Daher wäre es schon ein Erfolg, gelänge es dem Kremlchef, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht noch größer werden zu lassen.

Viel mehr als schwammiger Patriotismus und Tschetschenienkrieg waren bisher mit dem Projekt Putin nicht verbunden. Am Vorabend des Berlin-Besuchs verhaftete die russische Generalstaatsanwaltschaft den Chef der Mediengruppe Media-Most, Wladimir Gusinski. Offiziell werden Finanzmachinationen als Grund der Festnahme genannt. Indes war der Medienmogul dem Kreml schon lange ein Dorn im Auge. Der einzige nicht vom Staat zumindest beeinflusste Medienkonzern war seit einiger Zeit auf kritische Distanz zur Politik des Kreml gegangen. Im Mai durchsuchten maskierte Sicherheitskräfte bereits die Büros der Media-Most. Vor diesem Hintergrund dürfte es Putin schwerfallen, sein innenpolitisches Credo, der „Diktatur des Gesetzes“, den deutschen Gesprächspartnern glaubhaft zu vermitteln.

Kritiker wie der russische Deutschlandexperte Igor Maximytschew werfen dem deutschen Außenminister Fischer vor, Kontakte bewusst schleifen zu lassen. Auch Fischer hege die alten Vorurteile des Westens, Russland sei eine fremde und bedrohende Kraft. In der Tat haben die Kontakte mit der rot-grünen Koalition Schaden genommen. Initiativen auf unteren Ebenen und Städtepartnerschaften schlafen langsam ein.

Auch die im Juni vergangenen Jahres auf dem Ratsgipfel in Köln verabschiedete „Gemeinsame EU-Strategie“ gegenüber Russland, die auf eine pragmatische und realistische Partnerschaft ausgerichtet war, ist bisher nicht mit Leben erfüllt worden. Daran trägt auch Moskau Schuld, das durch Kosovo und Tschetschenienkrieg in eine bewusst antiwestliche Starre verfallen ist. Es zeigt aber auch, wie wenig die Mahnung des US-Vize-Außenministers Strobe Talbott, Russland gegenüber „strategische Geduld“ zu üben, im Westen auf Verständnis stößt .

Viel Ermunterndes erwartet Putin in Berlin daher nicht. Zumal Hauptgläubiger Deutschland überdies nicht bereit ist, den Russen beim Erlass der sowjetischen Schulden ein Stück entgegenzukommen. Ein Erfolg wäre indes schon, ließe sich die Bundesregierung überzeugen, die seit der Rubelkrise 1998 eingestellten Hermesbürgschaften wieder zu garantieren. Mit diesem Anliegen befindet sich der Kremlchef in tadelloser Gesellschaft: Auch Vertreter der deutschen Wirtschaft drängen darauf.