Verwirrtes Südkorea

Die ungewohnte TV-Berichterstattung vom Korea-Gipfel aus Pjöngjang stellt im Süden das Bild vom lange verteufelten Norden auf den Kopf

BERLIN taz ■ Anlässlich des Gipfels der koreanischen Staatschefs in Pjöngjang ist ganz Südkorea in Verwirrung geraten. Die Südkoreaner sitzen in diesen Tagen vor dem Fernseher und verfolgen die Übertragung des Treffens live. Die sonst geschmähten Fernsehsender des kommunistischen Nordens verzeichnen im Süden plötzlich Rekordeinschaltquoten. „Ich habe gestern den Gipfel während der Arbeit im Fernsehen gesehen, bin dann nach Hause geeilt und habe das Treffen dann weiter mit meiner Familie vor dem Fernseher verfolgt“, sagt die Verkäuferin Chan Ki-chul. Schon vor dem Hauptbahnhof in Seoul zieht ein riesiger Videoschirm Tausende Pendler in seinen Bann.

Als Nordkoreas Staatschef Kim Jong-il am Dienstagmorgen seinen südkoreanischen Präsidenten Kim Dae-jung überraschend am Sunan-Flughafen der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang begrüßte, musste in Südkorea das Bild vom Bösewicht revidiert werden. „Ich war total überrascht, dass Kim Jong-il nicht als Monster mit zwei Hörnern, als Wahnsinniger oder böser Terrorist und Kidnapper auftrat, sondern als ein nomaler, netter Kerl“, sagt die 37-jährige Hausfrau Kang Sun-young aus Seoul.

Kim Jong-il wurde bisher im kapitalistischen Südkorea als kranker oder verrückter Kommunist charakterisiert, der Plateauschuhe trägt, gern Alkhol trinkt, heimlich Videos anschaut und schönen Frauen nachstellt. „Weil das ultranegative Image Nordkoreas und Kim Jong-ils in den Köpfen der Südkoreaner plötzlich zusammenfiel, leiden sie jetzt an Orientierungslosigkeit“, meint der 35-jährige Angestellte You Jeong-ha.

Als wollte der Norden die Verwirrung im Süden noch fördern, wurde gestern die ohrenbetäubende Propaganda am Grenzort Panmunjom eingestellt. Statt Hasstiraden über südkoreanische Politiker und die im Süden stationierte US-Armee spielten die Lautsprecher des Nordens nur Musik.

Die Erwartungen an das Treffen waren im Süden schon vorab sehr hoch, so dass Kim Dae-jung selbst zu mehr Realismus aufforderte. Die Verschiebung des Gipfels auf Wunsch des Nordens um 24 Stunden sorgte dann für einen Dämpfer. Doch das gestrige Abkommen übertraf die Erwartungen der meisten bei weitem. „Selbst bei dem bahnbrechenden Treffen zwischen Willy Brandt und Willi Stoph 1970 in Erfurt, das die deutsche Entspannungspolitik beflügelte, gab es kein Abkommen“, sagt der 73-jährige pensionierte Lehrer Ryu Si-hun. Er sei zunächst skeptisch gewesen, doch jetzt sei er euphorisch. Wer Verwandte in Norden hat, macht sich jetzt große Hoffnungen auf das erste Wiedersehen seit dem Koreakrieg.

RYU KWON-HA