Back Room Charlottenburg

Jean-Paul Bourelly ist Jazzmusiker. Er hat bei Miles Davis Gitarre gespielt und HipHop produziert – und ist vor drei Jahren mit seinen goldenen Schallplatten von Harlem nach Berlin gezogen. Heute und morgen tritt er mit Archie Shepp im Quasimodo auf

von MAXI SICKERT

Abblätternde Farbe, die braune Holztür ist zerkratzt. Ein typisches Berliner Mietshaus der Jahrhundertwende, dem Verfall preisgegeben. Innen dunkles Linoleum und ein rostiger Aufzug, dem die Treppe in jedem Fall vorzuziehen ist. Jean-Paul Bourellys Wohnung selbst aber wirkt unendlich groß, jeder Raum lebt. Bilder, Teppiche, Stoffe. An einer Wand hängen hinter Glas gerahmt zwei goldene Schallplatten, jeweils samt CD und Audiokassette in Gold. HipHop-Chartbreakers, die Bourelly gemeinsam mit seinem Bruder Carl produziert hat, unter anderem für den Film „Boyz In The Hood“.

Hinter der nächsten Wand füllt ein riesiges Mischpult Bourellys Arbeitszimmer. Mikrofone biegen sich auf ihren Ständern, CDs stapeln sich neben Kopfhörern. Vor dem Computer steht eine Tasse grüner Tee mit Minze, daneben eine halb gerauchte Monte Christo. Und überall Gitarren. „Hier habe ich ungefähr zehn Gitarren, in den Staaten noch mal etwa fünfzehn. Gitarren brauche ich keine mehr.“

Vor drei Jahren siedelte der 39-jährige Gitarrist, Produzent und Songschreiber seiner Familie zuliebe von New York nach Berlin, von Harlem nach Charlottenburg. „Meine Frau hat hier eine Arbeit, die sie liebt, und ich kann als Musiker eigentlich überall leben. Hauptsache, ein Flughafen ist in der Nähe.“

Bourelly ging mit 19 nach New York, das war Ende der Siebziger. Zu dieser Zeit hatte sich die Jazzavantgarde gerade etabliert, freie Improvisation war salonfähig. Der Sohn haitianischer Einwanderer kam aus Chicagos South Side, wo er in gesicherten bürgerlichen Verhältnissen aufwuchs. Vater Arzt, Mutter Erzieherin, fünf Geschwister. Auch jetzt, 30 Jahre später, ist Chicago immer noch die Stadt des Blues. „An jeder Ecke stand jemand mit seiner Gitarre, heute sind es wahrscheinlich zwei.“ Doch nur in New York konnte er in einen Club gehen und dort die Männer spielen hören, deren Platten sich in seinem Zimmer stapelten. Elvin Jones, Pharaoh Sanders, Roy Haynes. Bald stand er mit ihnen auf der Bühne.

Doch Bourelly sieht sich nicht als Jazzspieler. „Es gibt sicher nichts Langweiligeres, als zum hundertsten Mal irgendwelche Jazzstandards zu spielen.“ Ihn interessieren Klänge. Bourelly entwickelte einen elektrisch verstärkten Sound mit einem erdigen, bluesorientierten Groove. Die Achtzigerjahre wurden zur großen Zeit des Synthesizers. Experimente mit formatierten Samples, Ambient-Sound-Collagen. 1989 holte ihn Marcus Miller auf das Miles-Davis-Album „Amandla“. Es war die erste und einzige Begegnung mit Miles. Ein bisschen Funk im Hintergrund, das war’s. Von Miles selbst hat er nicht viel mitbekommen, im Studio hatte jeder seine eigene Kabine. Neben diesen Studiojobs nahm er eigene Platten auf. Bisher erschienen zehn CDs unter seinem Namen und etwa fünfzig weitere, auf denen er mitwirkte. Darunter zwei für Cassandra Wilson als Produzent, Musiker und Songschreiber mit Vorliebe für sozialkritische, philosophische Texte.

Bei einem World Music Jam im Haus der Kulturen der Welt traf er dann kurz nach seiner Ankunft in Berlin den senegalesischen Sänger und Perkussionisten Abdourahmane Diop, dessen sanfte, warme Stimme ihn begeisterte. Bereits zu dieser Zeit hatte Bourelly die Songs für sein gerade veröffentlichtes Album „Boom Bop“ im Kopf. Sie probten gemeinsam und suchten nach weiteren Musikern.

Parallel dazu entwickelte Bourelly den „Back Room“. Eine Konzertreihe, bei der in losen Abständen bekannte Jazz- und Weltmusiker eingeladen werden, gemeinsam mit Berliner Musikern aufzutreten. So schaffte er es etwa, den Konzeptkünstler Kip Hanrahan nach zwanzig Jahren aus New York wieder einmal nach Berlin zu holen.

Im Sommer letzten Jahres stellte Bourelly auf der Popkomm seine neue Musik vor. Gemeinsam mit Archie Shepp, der bei der gleichen kleinen österreichischen Plattenfirma unter Vertrag ist. Gleich am nächsten Tag gingen sie gemeinsam ins Studio und nahmen einige Stücke für die CD auf. Archie Shepp, der vor 30 Jahren zu den wichtigsten Bläsern der Jazzavantgarde gehörte, ist immer noch ein Phänomen. Sein Saxophon schreit, heult, kreischt, um wieder sanft zu singen. Er wird Bourelly auf der etwa einmonatigen Europatour begleiten, die in Berlin beginnt.

Bourelly selbst hat bereits die nächste CD eingespielt. „Black Box – Boom Bop II“ mit Olu Dara, Dennis Chambers und Reggie Workman. „Es muss immer weitergehen. Ich möchte keine Zeit verlieren.“ Aber jetzt lehnt er sich doch zurück. Und mit einem Lächeln flammt das Streichholz an der Monte Christo auf.

Heute und morgen, ab 22 Uhr 30 im Quasimodo, Ecke Kantstraße / Fasanenstraße