Von Mutters Schoß direkt ins Netz

Kinder lernen teils schon im Vorschulalter den Umgang mit Computern. Schulen sind auf die Kenntnisse der Kids nicht vorbereitet. Ihnen fehlen die Technik und qualifiziertes Lehrpersonal. Für die elektronische Aufrüstung gibt es kaum Geld

von MARINA MAI

Tobias setzt Hasen, Kühe und Schweine in ein Freigehege. Nicht wirklich, Tobias baut sich am Computer eine virtuelle Welt mit Bauernhof, Postamt und Eisenbahnanlage. Dreimal klickt er, und drei Lokschuppen stehen am Rand der Bahngleise. Tobias radiert die Lokschuppen wieder weg, weil er die Ampeln vergessen hat. Der sechsjährige Sohn einer deutsch-indischen Familie beginnt von vorn: Dreimal klicken, und die Lokschuppen sind wieder da. Wenn Tobias seine virtuelle Welt abspeichern will, hat er ein Problem. Er muss der Datei einen Namen geben, aber schreiben kann der Junge, der erst im Sommer zur Schule kommt, noch nicht. Seine Mutter hat ihm die Buchstabentasten gezeigt, die er für seinen Namen braucht. Doch weil Tobias sie noch nicht sicher beherrscht, entstehen nach langem Suchen auf der unbekannten Tastatur Dateinamen wie „Toibsa“ oder „Tibas“.

Tobias Mutter Anke kann sich nicht mehr erinnern, wann ihr Sohn begonnen hat, am Computer zu spielen. Der bewegte Bildschirm habe ihn schon als Baby fasziniert. Da stand seine Krabbelbox neben ihrem Schreibtisch. Probleme mit der Computerleidenschaft ihres Sohnes hat die Mutter nicht. Wenn Tobias erklärt, wie er die Schienen auf dem Bildschirm verlegt, taut der sonst eher wortkarge Junge förmlich auf. Und es gäbe kein anderes Spiel, das ihn mehrere Stunden hintereinander fesseln könne, sagt seine Mutter.

In seiner Kindergartengruppe in Friedrichshain ist Tobias zwar der einzige, der einen „richtigen“ Computer nutzen kann, aber einen Gameboy hätten alle seine Freunde, sagt er. Im Kindergarten würden die Kinder Spiele tauschen, ergänzt seine Mutter. Die Erzieherinnen blieben bei dieser Tauschbörse außen vor: Den Umgang mit Computerspielen haben sie in ihrer Ausbildung nicht erlernt. Die Kita hinkt dem Leben hinterher: Die Industrie bietet ein breites Sortiment an Computern für alle Altersgruppen von Kindern, auch für solche, die noch nicht lesen können. Spielcomputer, die in 23 von 180 Berliner Sparkassenfilialen sowie in Filialen anderer Banken stehen, sind unter Vorschulkindern ein Hit.

Dörthe komponiert am Computer ihrer Mutter Keybord-Melodien. Der PC kann die von der Drittklässlerin gespielten Noten ausdrucken lassen. Auch Briefe an ihre Oma schreibt Dörthe am Computer. Allerdings hat die Oma keinen E-Mail-Anschluss: Dörthe muss den Brief mit der Post versenden. Auch in ihrer Treptower Grundschule kann die Zehnjährige ihre Kenntnisse nicht nutzen. „Die Schule hat zwar ein hochmodernes Computerkabinett, aber kein qualifiziertes Personal“, bedauert Dörthes Mutter. Neben dem Schulleiter könne nur ein einziger weiterer Lehrer sicher mit dem PC umgehen. So können nur Schüler der fünften und sechsten Klasse den modernen Unterrichtsraum nutzen. Dass Dörthe von ihrer Lehrerin ein handgeschriebenes Zeugnis erhält, gehört zu den Ungleichzeitigkeiten der Schulpolitik. Während die Schülerin ihre Fehler am Bildschirm leicht korrigieren kann, muss die Lehrerin von vorn beginnen, wenn ihr ein Schreibfehler unterläuft.

Während heute Kinder die Grundschule besuchen, die den Computer bereits auf dem Schoß ihrer Eltern kennen lernten, beginnt die Schulverwaltung erst damit, ihre im Schnitt 44 Jahre alten Grundschullehrer an moderner PC-Technik zu alphabetisieren.

„Ich musste ohnehin umziehen und habe mich entschlossen, rechtzeitig vor der Einschulung meines Sohnes ins Einzugsgebiet der Grundschule am Märchenbrunnen im Friedrichshain zu ziehen“, erklärt die Mutter des sechsjährigen Computerfreaks Tobias. Dort würde sich das Lehrerkollegium der Computertechnik stellen. Eine Meinung, die bei Schulleiterin Marlies Handtke neben der Freude über den guten Ruf ihrer Schule auch Sorge auslöst. Zwar hat die Grundschule als einzige im Bezirk eine eigene Homepage, aber der Computerraum besteht lediglich aus vier modernen Geräten. „Ich hoffe, dass wir da die Wünsche der Eltern nicht enttäuschen.“ Eigentlich wollte die Schule einen internetfähigen PC pro Klassenraum aufstellen. Aber das Geld hätte das Land nicht bewilligt. Und mit der Aufstellung von Computern und der Qualifizierung des Personals wären die Kosten noch nicht gedeckt, so die Schulleiterin. „Eine unfallsichere und technisch zuverlässige Installation würde neue Schulmöbel und Elektroarbeiten erfordern.“ Hinzu kämen Kosten für die Wartung der Geräte.

27 Schüler teilen sich in Berliner Schulen im Durchschnitt einen Computer. 1990 waren es noch 80. In die Statistik gehen jedoch auch solche technisch veralteten Geräte ein, die Firmen oder Eltern den Schulen schenkten, statt sie zu entsorgen. Die Schulverwaltung geht aber davon aus, dass im Jahr 2001 kein Rechner schlechter als ein 486er ist. Immerhin haben zwei Drittel aller Grundschulen einen Internetanschluss. In ganzen 6 von 476 Grundschulen steht per Modellprojekt ein Computer in jedem Klassenraum. Von der Forderung der Grünen, jedem Schüler einen PC in der Schule zur Verfügung zu stellen, ist das weit entfernt. „Das wäre ein Schritt in Richtung Chancengleichheit“, begründet der 31-jährige Schulpolitiker Özcan Mutlu seine Forderung: Nicht jeder Schüler wachse in einem Haushalt auf, in dem ein PC steht. Nur wenn die Schule den Zugang zu der neuen Technik stelle, kompensiere sie die Chancenunterschiede. „Mit der technischen Ausstattung ist es allerdings nicht getan“, so Mutlu. „Die Einführung dieser Technik wird die sozialen Beziehungen in der Schule ändern“, prophezeit er. Schüler hätten über das Internet einen eigenständigen Zugang zu neuen Bildungsinhalten. Schon heute seien viele Schüler kompetenter im Umgang mit Computern als ihre Lehrer. „Nur wenige Lehrer sehen es als Chance an, mal von ihren Schülern zu lernen.“

Doch der von Mutlu geforderte „Umbau der Schule“, der auch eine Verjüngung der Lehrer bedeuten sollte, kostet Geld. Der Schulverwaltung geht es derzeit um Bestandswahrung. Aus Lottomitteln bekommt das Programm „Kids! Computer an die Schule“ bis zum Jahre 2001 ingesamt 30 Millionen Mark. „Die Programme müssen fortgesetzt werden, wir denken derzeit über eine Anschlussfinanzierung nach“, erklärt Thomas John, Sprecher der Schulverwaltung.

Eine Umfrage des Berliner Instituts für Lehreraus- und -fortbildung ergab, dass 60 Prozent der Grundschullehrer den Umgang mit einem PC erlernen möchten. Das Angebot an Kursen am Institut ist jedoch deutlich geringer. Derzeit kann jeder Lehrer nur alle sechs Jahre eine Fortbildung machen. Deshalb soll jetzt auch verstärkt schulinterne Lehrerfortbildung mit Selbstlernmaterial angeboten werden.

Während die Lehrer mühsam am Computer alphabetisiert werden, stehen bereits neue Aufgaben an: Experten diagnostizieren einen deutlichen Rückgang der feinmotorischen Fähigkeiten bei Grundschülern in den letzten zehn Jahren und machen dafür die gestiegene Mediennutzung mitverantwortlich. Ebenso wie Fernsehen im Vergleich zu Spiel die motorischen Fähigkeiten weniger entwickelt, tut es Tastendrücken im Vergleich zu Schreiben und Malen. Die Leiterin der Schule am Märchenbrunnen hat deshalb bewusst darauf verzichtet, die Computer auch für den Freizeitgebrauch freizugeben: „Die Kinder sollen nach Schulschluss basteln und malen, zur Kompensation der Feinmotorik.“