Vive the Belgium!

Co-Gastgeber Belgien findet über den Umweg Fußball zum Gemeinschaftsgefühl. Das 0:2 gegen Italiens Hartgummiwand stört da vorerst wenig, auch nicht ihren originellen Trainer Robert Waseige

aus Brüssel/Bruxelles/Brussels BERND MÜLLENDER

Robert Waseige würde auch als Versicherungsvertreter durchgehen, als Postobersekretär a.D. oder Finanzamtsleiter einer Kreisstadt. Optisch und physiognomisch kommt er dem Klischee des Durchschnittsbelgiers sehr nah: Das Jacket dunkel, konservativ, niemals chic; der Schlipsknoten immer etwas schief, der Körper gemütlich gerundet. Das volle Gesicht weist ihn als überzeugten Nichtasketen aus und ist stets leicht gesund gerötet. Gelegentlich blitzt eine Spur Schalk aus den Augen hinter der goldrandigen und großglasigen Altherrenbrille.

Robert Waseige, 60, Sohn eines Lütticher Arbeiters, ist Nationaltrainer in Belgien. Und keineswegs eine Durchschnittstype, sondern originell, überraschend, witzig. Dafür muss man ihn vor allem hören. Waseige referiert nämlich doppelsprachig, französisch und flämisch im stetem Wechsel, manchmal mitten im Satz. Das hat permanenten Charme, sorgt für ständiges Grinsen bei den Zuhörern oder für Staunen und Raunen, wer es erstmals hört: „Hää, was sagt der ...?“

Nach dem 0:2 seiner „Roten Teufel“ gegen Italien, am späten Mittwochabend in Brüssel, klang das so: Die Seinen hätten gehabt „un problèm psychologique, daarom war deze wedstrijd op topniveau so belangrijk“. Manchmal geraten auch deutsche Brocken dazwischen; englische Fragen beantwortet Waseige auf Englisch, um dann wieder in sein Doppelbelgisch zurückzufallen: „... Italiaan goed organizeerd, particulier avec ...“

Auf gut deutsch: Belgien hatte es schwer. Das Spiel lief perfekt nach italienischem Wunsch. Die frühe Führung durch das erste Länderspieltor des jungen Römers Francesco Totti. Und dann war Verlass auf eine Abwehr, die je nach Bedarf hart war wie ein verbrannter Pizzaboden oder flexibel wie der Teig vor dem Backen. Die italienischen Defensivstrategen waren bewundernswerte Herren aller Räume, fast perfekt im Zweikampf, Meister der Antizipation, und das alles gleichzeitig. Dino „die Maske“ Zoff, ihr Trainer, freute sich, die Seinen hätten „auf alle Bemühungen der gefährlichen Belgier immer gut reagiert“.

Die technisch limitierten Gastgeber waren zwar stets überlegen, hatten aber fast nur Chancen zu Halbchancen. Drei Punkte aus zwei Spielen – das Viertelfinale ist noch lange nicht erreicht. „Italien war heute so stark“, sagte Waseige und knetete wie immer seine fleischigen Finger, „die hätte niemand geschlagen.“ Er wolle „niet klagen“, aber jetzt müsse er seine Spieler „mental aufrichten“, das sei „très important“.

Waseiges bewusstes Zwiesprech ist Antwort auf die landestypischen Eifersüchteleien von Flamen und Wallonen, die gerade im Fußball regelmäßig auftauchen. Frankophile Spieler werden reflexartig in den flämischen Medien bespöttelt, Flamen in der Wallonie. Waseige wurde von flämischen Medien anfangs als „Übergangspapst“ verhöhnt. Dann verblüffte er mit seinem versöhnenden Heimatesperanto und die Mannschaft mit gutem Fußball. Seitdem ist er wohlgelitten, landesweit.

Das Versöhnungssprech des kauzigen Trainers passt zum Verhalten der Fans: Um allen Konflikten aus dem Weg zu gehen, haben sie auf ihren Utensilien nicht flämisch „België“ oder französisch „Belgique“ stehen, sondern stets auf Englisch „Belgium“. Und sie feuern zigtausendfach mit „Belgium, Belgium, Belgium“ an. Das ist so, als würden deutsche Fans immer „Germany!“ brüllen oder die Spanier statt España „Spain!“.

Über den englischen Umweg lernt Belgien belgisch zu fühlen. Gemeinschaftsgeist durch Fußball. Sonst gibt und gab es den nur bei der landesweiten Empörung über den Dutroux-Justizskandal und durch die allgegenwärtige Königsverehrung. Passend, dass bei der EM-Eröffnungsfeier vor dem 2:1 gegen Schweden die Nationalhymne von einem Opernsänger dreisprachig intoniert wurde (incl. ein paar Textzeilen auf Deutsch, denn das ist in Ostbelgien offizielle 3. Landessprache).

Das Gemeinschaftsgefühl ist indes nicht so stark, dass das 0:2 eine nationale Katastrophe wäre. Als der Mannschaftsbus kurz vor Mitternacht vom Stadion wegfuhr, jubelten die Fans den Geschlagenen einträchtig zu. Schalkes Marc Wilmots, der nach starkem Spiel als ausgepumptes Kampfschwein herumstand („Ich bin total platt“), deutete die Niederlage positivistisch: „Gegen Schweden war nur das Ergebnis gut, heute haben wir zum Fußball zurückgefunden.“ Alles, weiß er, hänge jetzt vom Duell mit den Türken am Montag ab, da erwartet Wilmots „gegen einen taktisch sehr verbesserten Gegner ein explosives Spiel“.

Waseige, den seine Spieler achtungsvoll „dicker Robert“ nennen, blickte derweil herbergereux nach vorn: „Alle sagen, das erste Spiel in einem solchen Turnier ist das schwerste. Heute haben wir gesehen, wie wichtig dieses zweite war. Aber das wichtigste ist halt das nächste.“ Dass es nicht das letzte Spiel der Belgier sein möge, darf sich Fußball-Europa durchaus wünschen: Damit el train de la victoire van de belgische elftal noch ein Weilchen seinen viaje continuar möge con grandezza en mit verve.

Italien: Toldo - Cannavaro, Nesta, Iuliano - Zambrotta, Conte, Albertini, Fiore (83. Ambrosini), Maldini - Inzaghi (77. Delvecchio), Totti (64. Del Piero) Belgien: De Wilde - Deflandre, Staelens, Valgaeren, Van Kerckhoven (45. Hendrikx) - Verheyen (67. Mbo Mpenza), Vanderhaeghe, Wilmots, Goor - Strupar (58. Nilis), Emile Mpenza Zuschauer: 45.000