Theoriebildung bis zur Total-Utopie

Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „testcard“ diskutiert Geschlechterbilder und -verhältnisse in der Popkultur

„Sänger, Songs und triebhafte Rede“ hieß der Band, den Martin Büttner vor drei Jahren über „Rock als Erzählweise“ veröffentlichte. Jetzt blickt er auf Geschlechter, Konstruktionen und Verschleierungen von Machtverhältnissen: Büttner zählt zur Redaktion von testcard – Beiträge zur Popgeschichte. Deren aktuelle Ausgabe heißt „Gender“, und in ihrem „Zentrum steht die Frage danach, ob Popkultur in einem besonderen Maße gängige Geschlechterbilder transportiert, inwieweit Feminismus und Homosexualität hier je eine Rolle gespielt haben und inwieweit das Spezialwissen von Männern subtile Formen der Ausgrenzung geschaffen hat“. Ein Ansatz, der eine grundlegende Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen im Pop verspricht. Zum nüchternen Betrachten hält aber schon eine Formulierung im selben Beitrag an, in der sich Theorie und Praxis streng gegenüberstehen: „Die Gender-Diskussion ist über die Phase des Diskutierens und Publizierens hinaus.“

Gut, Labels mit Gender-Bewusstsein tauchen verstärkt auf. „Flittchen Records“ zum Beispiel oder Gudrun Guts erfolgreiches „Monika Enterprises“. So erfreulich das alles ist, darf aber doch die Theoriebildung nicht außer Acht gelassen werden. Diese testcard zeigt, warum. In ihrer Analyse von Videoclips propagiert Ute Bechdolf die Androgynität als Repräsentationsstrategie, mit der die starr in „Mann“ und „Frau“ unterscheidende Alltagstheorie von Geschlechtern aufgeweicht werden soll. Dummerweise kommt in den Vorstellungen selbiger gerade diese Androgynität nur als Irgendwie-Kombination „männlich“ und „weiblich“ besetzter Zeichen vor. Mit der Total-Utopie „Jede/r ist sein/ ihr eigenes Geschlecht“ im Blick ist es angebracht, genau hinzuschauen und mit unverbrauchten Begriffen zu hantieren.

Schon die Sache mit der Androgynität zeigt: Eine Debatte über Geschlechterverhältnisse und deren Konstruktion im Sozialen braucht Einübung. Ein theoretisches Profil der Redaktion hätte beides gewährleisten können. Doch das zeichnet sich nicht ab, allein schon, weil die Themenkomplexe ausufern. Mit Ach und Krach lassen sich drei Schwerpunkte ausmachen, „Frauen im Pop“, „Drag Kings und Drag Queens“, „Sexualität und Erotik“, wobei Letzterer quer zu den anderen liegt. Zum Overkill führen dann Artikel über Verona Feldbusch und lesbische Krimis, neben denen auch Lisa Pfahls rühmlicher Cyborg-Artikel in der Redaktionsluft hängt.

Wenigstens gelingt ihr als Einzelkämpferin, was zu vielen Beiträgen fehlt. Pfahl erläutert, in welchem Sinne der Cyborg als „Metapher einer postidentitären Subjektposition“ gelesen werden kann. Und weist auch noch mal auf offene Fragen hin. Barbara Kirchner weiß eine Antwort auf Pfahls letzte Frage, wie man denn neu erhaltene Geschlechterfreiheiten aufrechterhalten kann: Ihre Sprechweise favorisiert weder „hetero“ noch „homo“, weder „männliche“ noch „weibliche“ Positionen. Und macht so ihre Polemik gegen die „unsexy“ Stars der letzten fünf Popjahre zur Praxis, mit der sie das starre Geschlechterregime überwindet.

In der US-Diskussion hat Camille Paglia kürzlich sowohl die essenzialistische Feministin Martha C. Nussbaum als auch deren dekonstruktivistische Kontrahentin Judith Butler als „Feminazis“ beschimpft, deren Gender-Diskurs inzwischen gesellschaftlich sanktioniert und sogar „hegemonial“ sei. Die testcard „Gender“ zeigt: schön wär’s.

CHRISTOPH BRAUN

„testcard: Gender. Geschlechterverhältnisse im Pop“, Ventil-Verlag, Mainz, 289 Seiten, 28 DM