Ja, auch wenn’s wehtut

Zufrieden ist nur der Kanzler. Die Grünen leiden unter dem historischen Kompromiss. Aber kaum einer will den Ausstieg aus der Koalition riskieren

aus Berlin MATTHIAS URBACH

Die Erregung war gestern bei vielen Grünen deutlich spürbar. Was sollen wir machen, fragte man sich gegenseitig: Aus der Koalition aussteigen? Oder den Konsens akzeptieren? Zufrieden war eigentlich niemand so richtig mit dem Ergebnis. Der Vertrag war am Ende so weich formuliert, wie man es befürchtet hatte. Blieb hinter dem zurück, was man geglaubt hatte, bei einem Ausstieg im Konflikt der Industrie im juristischen Kleinkrieg abringen zu können.

Aber aussteigen aus der Koalition? Ein ungeheuerlicher Gedanke. Und war nicht dem Ganzen doch etwas abzugewinnen? Immerhin war ein historischer Schritt vollbracht. Deutschland steigt aus der Atomenergie aus. Ohne Entschädigungen. Ein schnellerer und billigerer Ausstieg als in Schweden.

So stimmte gestern die Bundestagsfraktion dem von Umweltminister Jürgen Trittin und Gerhard Schröder ausgehandelten Kompromiss zähneknirschend zu. Trittin hatte die Linie vorgegeben. Das Ergebnis sei ein für die Grünen „sehr schwieriger Kompromiss“, aber „in der Sache vertretbar“.

Doch 32 Jahre durchschnittliche Laufzeit pro Reaktor bedeutet auch, dass in dieser Legislaturperiode vermutlich noch kein Meiler vom Netz geht, und auch in der nächsten Legislaturperiode höchstens drei AKWs – wenn überhaupt. Nach einem Regierungswechsel könnte das Atomgesetz erneut geändert werden. Außerdem ist kein definitives Ende klar, an dem alle Meiler vom Netz sind. Mit diesen Argumenten lehnte schließlich gestern Christian Ströbele als einziger Abgeordneter den Kompromiss in der Fraktionssondersitzung ab. Nach der ersten Bestürzung war sich der Rest der 24 anwesenden Abgeordneten einig, dass genug erreicht worden ist, um es – alles in allem – als Erfolg werten zu können. Doch die Enttäuschung über das Erreichte war vielen anzumerken. „Ein historischer Kompromiss, der sehr schmerzhaft ist“, so brachte es der Umweltpolitiker Winfried Hermann auf den Punkt.

Allein Antje Radcke wollte unter den grünen Bundespolitikern öffentlich Flagge zeigen: „Ich finde das Verhandlungsergebnis inakzeptabel.“ Radcke will nun auf dem Parteitag der Grünen in einer Woche den Beschluss fassen lassen, doch mit einem Ausstiegsgesetz das Ende der Atomwirtschaft zu erzwingen – also in 30 Jahren Gesamtlaufzeit. Doch Radcke blieb selbst im Bundesvorstand isoliert. Vor allem wird ihr unterstellt, mit dieser Aktion eher ihre Wiederwahl als Bundessprecherin betreiben zu wollen als eine inhaltliche Diskussion. Ihre Ablehnung habe ja schon vorher festgestanden, verbreiten Kritiker. Denn gegen Renate Künast gilt ihre Kandidatur bislang als chancenlos.

Völlig frei von solchen Problemen ist Kanzler Gerhard Schröder. Sichtlich zufrieden hatte er in der Nacht zum Donnerstag nach knapp vierstündigen Verhandlungen mit den Strombossen im Kanzleramt das Ergebnis bekannt gegeben. „Ich bin froh, dass wir uns zusammengerauft – nein falsch – zusammengefunden haben“, sagte er, eingerahmt von Ulrich Hartmann, dem Vorstandschef der Veba, und Dietmar Kuhnt, dem Chef von RWE. Die 32 Jahre Laufzeit lägen zwar oberhalb der Position der Bundesregierung, „aber Sie wissen, wie das ist – bei Verhandlungen muss man sich aufeinander zu bewegen.“

Schröder war es nach dem geplatzten Rentengipfel vom Vortag vor allem darum gegangen, nicht wieder ohne Ergebnis zu bleiben. Gleich zu Beginn der Verhandlungen am Mittwochabend machte der Kanzler den vier Konzernherren energisch klar, dass er das Thema nicht länger vertagen wolle. Die Pressekonferenz hatte er bereits auf 22.30 Uhr terminieren lassen – rechtzeitig zu den „Tagesthemen“. Nachdem die Details bereits geklärt seien und es nur noch um die Laufzeit gehe, solle man eine Einigung nicht länger hinausschieben.

Doch die Chefs von RWE, Veba, Viag und EnBW feilschten weiter. Sie verlangten sogar längere Laufzeiten als in den Verhandlungen zuvor. So saß man im Kanzleramt zu acht – neben den vier Konzernchefs, Wirtschaftsminister Werner Müller, Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier, Trittin und Schröder – zusammen bei italienischen Antipasti und einer Ingwer-Kokos-Huhn-Suppe, die unablässig in der Terrine brodelte. Ohne voranzukommen.

Um 22.30 Uhr schließlich hatte Schröder die Nase voll. Er machte „ein letztes Angebot“: Die Regierung gibt 32 Jahre Gesamtlaufzeit. Eine Stunde zogen sich die Stromchefs zurück – und akzeptierten. Diese Offerte war freilich vorher mit dem kleineren Koalitionspartner abgestimmt worden. In einer Telefonkonferenz waren Fach- und Landespolitiker eingeweiht worden. Sicher ein wichtiger Grund, warum gestern Radcke mit ihrem Protest ziemlich alleine blieb.

Für die Konzerne freilich war dieses Angebot auch keine allzu große Zumutung gewesen. Ein „vertretbares Ergebnis“, wie sich RWE-Chef Kuhnt hinterher ausdrückte. Kein Wunder, hatte er doch für seinen gerichtlich außer Betrieb gesetzten Meiler Mülheim-Kärlich 11 Jahre Extralaufzeit bekommen, die er auf seine anderen AKWs verteilen darf. Damit endet auch für RWE ein Rechtsstreit über den Weiterbetrieb mit ungewissem Ausgang. Hartmann erklärte, das Ergebnis mache ihn zwar „nicht glücklich“, aber das mache wohl einen solchen Konsens aus.

Das sehen die meisten Umweltverbände anders. Für sie ist der Kompromiss „ein Geschenk an die Atomindustrie“, wie sich die BUND-Vorsitzende Angelika Zahrnt ausdrückte, „ein Bestandsschutz mit garantierten Privilegien“.