kikkerballen
: Guter Fußball dauert immer acht Jahre

Potiphars Weib wäre begeistert

Oho, was ist denn hier los, dachte sich der erstaunte Beobachter der Fußball-Europameisterschaft schon vor Wochenfrist, als beim Eröffnungsspiel – eine traditionell eher zähe Angelegenheit – Belgier und Schweden über das Spielfeld tobten, als sei ihnen der leibhaftige Sepp Blatter auf den Fersen. Und es ging so weiter. Ball nach vorn gebolzt und hinterher geflitzt, hieß es da, eine runderneuerte Variante des ehrwürdig- britischen Kick and Rush. Resultat: So viele Torchancen, dass die Keeper ganz flattrig wurden, und tatsächlich auch Tore, Tore, Tore. Der absolute Horror für alle Vorrunden-Tipper, die im Vertrauen auf langjährige Erfahrungen das gute alte 0:0 in den Vordergrund ihrer Prognosen gestellt hatten.

Natürlich konnte nicht jedes Spiel seither den derart früh gesetzten Maßstäben gerecht werden, aber dennoch gab es eine erkleckliche Anzahl erfreulicher Kick-Erlebnisse. Die phantasiearmen und risikoscheuen Betonfußballer sind zu einer kleinen radikalen Minderheit geworden und werden, wie im Falle der Tschechen, Dänen, Rumänen oder Deutschen, für ihr unzeitgemäßes Treiben meist auch mit Erfolglosigkeit bestraft. Nur die Norweger wurden zumindest im ersten Match gegen Spanien mit unverdienten Punkten für ihren Destruktivismus belohnt.

Nach einer phasenweise mitreißenden ersten EM-Woche stellt sich mit Macht die Frage: Warum ist der Fußball so verdammt gut? Ebenso simpel wie die Frage ist die Antwort: Guter Fußball war einfach mal wieder an der Reihe. Seit 50 Jahren bewegt sich analog zu Ernest Mandels Theorie der langen Wellen im Kapitalismus auch der Fußball in exakt bemessenen Zyklen. Acht fetten Jahren folgen stets acht magere Jahre, dann geht es wieder von vorn los. Potiphars Weib wäre begeistert.

Von der WM 1950, die Uruguay in Rio in einem packenden Endspiel gegen Brasilien gewann, bis zu Brasiliens WM-Triumph 1958 in Schweden boten Südamerikaner und in Europa vor allem die Ungarn Fußball der nie gesehenen Art. Stars wie di Stefano, Puskas, Kocsis, Kubala, Kopa, Schiaffino, Liedholm, Fritz Walter, Didi oder Vava entzückten die Fans in den Stadien. Der schwedischen Gala des jungen Pelé folgten jedoch auf dem Fuße acht sehr öde Jahre mit der gräßlichen WM 1962 in Chile als Tiefpunkt. Ab England 1966 ging es dann pünktlich wieder aufwärts, die WM 1970 in Mexiko gebar Legenden, die EM 1972 das beste deutsche Team aller Zeiten.

Das abrupte Ende der goldenen Phase brachte die WM 1974 mit den Niederländern als einzigem Lichtblick weit und breit, die WM-Turniere 1978 und 1982 boten ebenso wie die Europameisterschaften 1976 und 1980 Fußball zum Abgewöhnen: plump, dumpf, defensiv, brutal. Dann aber erschienen ab 1984 Platinis großartige Franzosen auf der Bildfläche, Danish Dynamite explodierte, Scifos Belgier, Zicos Brasilianer, Maradonas Argentinier, die Niederländer mit Gullit, van Basten, Rijkaard, ein exzellentes Sowjet-Team prägten das nächste Octennium, bis die äußerst niveaulose WM 1990 den Schlusspunkt einer überaus ersprießlichen Epoche setzte.

Dänemarks Verlegenheitstitel bei der EM 1992, der 0:0-Fußball 1994 in den USA, Deutschlands geradezu unverschämter EM-Erfolg 1996 mit bertistischen Mitteln waren die Marksteine eines tristen Fußball-Zeitalters, das die WM 1998 auf die Minute pünktlich ausläutete. Galafußball heißt jetzt wieder die Devise, und wir dürfen uns nach der folgerichtig spektakulären Euro 2000 auf ein großes WM-Turnier 2002 in Japan und Korea freuen sowie auf eine weitere ansprechende EM 2004 in Portugal, bis dann 2006, wo auch immer, der unvermeidliche Backlash einsetzen wird. Bis dahin heißt es: Zurücklehnen und genießen. Wenn erstmal die Gurken raus sind und am Samstag das Viertelfinale beginnt, geht das Turnier schließlich erst richtig los.

MATTI LIESKE